Die Nächte des Wolfs 02 - Zwischen Mond und Verderben
P rolog
Vor etwas mehr als einem Jahr
In einer scheinbar ganz normalen Wohngegend außerhalb von Farthington liegt Ärger in der Luft. Schnurgerade Gehwege und sorgsam getrimmte Rasenflächen säumen die Reihenhäuser und die üblichen Häufchen Eigenheime. Es ist eine ruhige Gegend, wo jeder jeden zu kennen scheint. Aber manchmal trügt dieser Schein, denn nicht selten steckt hinter den Bewohnern einiges mehr, als die Nachbarn vermuten.
In einem solchen unscheinbaren Garten hält ein Mann mit einer angeborenen, fast tierisch anmutenden Geschmeidigkeit abrupt inne. Wie sein älterer Sohn Max ist er hochgewachsen mit breiten Schultern, dabei schlank wie Pietr, sein Jüngster, und vom Typ her dunkel wie alle Rusakovas, mit einem leichten Silberschimmer im Haar.
So jung ist der Vater noch, und doch neigt sich sein Leben dem Ende. Nicht wegen der fragwürdigen Entscheidungen, die er als junger Mann getroffen hat – und die seine Frau veranlassten, die Kinder unter ihrem Familiennamen aufzuziehen statt unter seinem – sondern weil Andrei, so normal sein Umfeld auch scheinen mag, sich in keine Norm fügt.
Er zögert am Lattenzaun, diesem Sinnbild für Glück und Erfolg im amerikanischen Traum, der so oft unerfüllt bleibt. Aber für ihn ist selbst ein hübscher Zaun nichts weiter als ein Käfig. Wutentbrannt blickt er zum Nachbarhaus hinüber, einem schlichten taubenblauen Holzhaus mit Veranda, während seine Frau Tatiana ins Freie tritt und zügig, leichtfüßig den Rasen überquert.
Sie ist rank und schlank wie ihre Tochter Catherine, aber in ihrem vollen braunen Haar flammen rote Strähnen auf wie kupferfarbenes Wetterleuchten. Wie zur Frage neigt sie den Kopf und ihre Nasenflügel beben. Besorgt ziehen sich ihre Augenbrauen zusammen. Sie tritt ihm in den Weg, fleht: » Komm herein « , und legt ihre Hand auf seinen Arm.
Er schüttelt die Hand ab wie ein Hund den Regen. Sein Gesicht ist rot vor Zorn und er durchbohrt das Haus des Nachbarn förmlich mit Blicken. » Wie er dich immer ansieht … «
Sie errötet, als müsse sie sich dafür schämen, obwohl sie nichts für die Wirkung kann, die sie auf den Mann ausübt. Dieses Tier unter ihrer menschlichen Haut mit seinen Krallen und seiner Geschmeidigkeit ist es, das manche Männer reizt, sie betört und ihre niederen Instinkte weckt.
Am blauen Haus geht die Tür auf, der Mann tritt heraus und winkt ihr zu. Sein breites Grinsen versucht nicht einmal, seine unangebrachte Aufmerksamkeit zu verbergen.
Die Sonne geht unter, lässt an den Bergspitzen im Süden jedoch einen Schimmer wie eine Blutspur zurück. Dies sind die gefährlichen Stunden, wenn die Haut den Wolf im Innern kaum noch zu halten vermag, wenn das Biest immer unbändiger aus der vermeintlich menschlichen Brust hervordrängt.
» Ich werde ihm das Herrrz herrrausrrreißen … «
Fauchend setzt ihr Ehemann über den Zaun hinweg. Nicht zum ersten Mal lässt es ein Mann am gebotenen Anstand fehlen, aber sie fürchtet, dass es dieses Mal nicht ohne Folgen bleibt.
Es ist ein Wettlauf, die breite Verandatreppe hinauf bis zum Nachbarn, der nicht begreift, dass er hineingehen, die Tür verriegeln und sich in einem Schrank einschließen sollte, dass er dort ausharren sollte bis zum Morgen und beten, dass der Verstand über die Raserei siegt.
Aber er steht nur da, breitbeinig und kampfbereit. » Runter von meiner Veranda, Rusakova « , zischt er.
Ein lächerliches Geräusch verglichen mit dem, was aus Andrei hervorbricht. Ein tiefes Knurren entringt sich seiner Brust, während er mühelos mit einem Satz die letzten drei Stufen nimmt.
Schon packt er den Mann, der seine Frau so unverschämt anstarrt, und blinde Wut erstickt seine Worte. Ein Knurren, ein Brüllen – Worte bedeuten nichts, wo solche Taten sprechen. Aus Andreis Taten sprechen Zorn, Rache – blanker Hass.
Der Mann erschlafft in seinen Händen, er hat seine Angriffslust offenbar verloren, denn nun schreit er und schlägt panisch und ungelenk nach Andreis Gesicht, welches pulsiert, sich verzieht. Sich verwandelt …
Jemand erscheint am Fenster, schiebt die Gardinen zur Seite. Das Entsetzen formt ihren Mund zu einem » O « . Die Frau des Lüstlings – in seinen Augen eine graue Maus, die er missachtet, wenn er sie nicht gerade in aller Öffentlichkeit demütigt. Sie schiebt ihren Sohn weg und der Vorhang fällt wieder vors Fenster.
Hinter dem Mann fällt klackend die Tür ins Schloss, mit einem satten Knall schnellt der Riegel ins
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