Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
sie und erhebt sich mit ihnen in die Lüfte. Durch den Schneesturm hinauf in die uralte Metropole und weiter nach London, der Stadt über der Stadt, wo die Schneeflocken wie wild gewordene Kobolde in der Nacht tanzen und der Verkehr schon seit Stunden zum Erliegen gekommen ist.
Heiligabend ist es.
Die Nacht, in der die Engel durch die Sraßen wandern und die Menschen sich einsam in die Häuser zurückziehen. Wo den neuen Göttern gehuldigt wird und der allmächtige Träumer die Augen vor dem Leid der Welt verschließt.
In dieser Nacht geschieht es, dass der Engel Uriel zwei Mädchen, Schwestern, dort absetzt, wo die Engel ihren Himmel haben.
Am Oxford Circus.
Wo einst Rahel für die Menschen gesungen hat.
Damals.
Als Emily noch so jung war.
Viel jünger, als Mara es je sein würde.
Edward Dickens, der die Geschichte mitangehört hat, rückt sich die Brille zurecht und schaut zu Boden. Mara wurde vor einer halben Stunde von Peggotty abgeholt und in mein Anwesen nach Marylebone gebracht. Ganz unterkühlt war das Kind, doch weiß ich sie nun in guten Händen.
Emily sitzt mir gegenüber an dem runden Tisch in der Ecke, an dem sie immer zu sitzen pflegt, wenn sie im Raritätenladen ist. Mr. Dickens hat ihr einen Kräutertee gebraut, und sie schlürft ihn genüsslich.
»Was ist mit den anderen geschehen?«
Ich sage es ihr.
Berichte davon, dass sie alle in Sicherheit sind.
»Wo ist Steerforth?«
Es ist Mièville, der antwortet: »Er ist verschwunden. Gemeinsam mit der alten Ratte. Lord Brewster.« Der Nocnitsa hat sich rechtzeitig von dannen gemacht, wie es Geschöpfe seiner Art zu tun pflegen, wenn ihnen der Boden unter den Füßen brennt. Lord Brewster, der die Ereignisse vor so langer Zeit ins Rollen brachte, ist ihm gefolgt. Wohin, kann niemand sagen. »Es gibt keine Spuren.«
Bisher.
»Lord Mushroom?«
»Wir vermuten, dass er sich noch im Abgrund aufhält.«
Am Ende bleibt auch er verschwunden.
»Manderley Manor hat lapidar zur Kenntnis genommen, dass Sie beide überlebt haben«, stelle ich fest. Wohl wissend, wie ernüchternd diese Nachricht für das Mädchen sein muss.
Emily nimmt die Neuigkeit zur Kenntnis.
Berührt ihr Mondsteinauge.
»Wie wird es jetzt weitergehen?«
Mr. Dickens, der bisher geschwiegen hat, unterbreitet ihr einen Vorschlag. »Sie könnten bei mir arbeiten. Hier im Raritätenladen.« Er hustet und steckt sich eine Pfeife an. »Ich könnte noch einen tüchtigen Gehilfen gebrauchen.« Der alte Buchhändler mustert das Mädchen neugierig. »Ach ja, Neil Trent möchte zur See fahren und hat auf der
Pequod
angeheuert.«
Bangen Herzens kommt Emily nur ein einziger Gedanke. »Was ist mit Aurora?«
Sie wird ihn doch nicht etwa begleiten wollen?
»Miss Fitzrovia hat nichts dagegen, bei den Quilps in Hampstead zu wohnen.«
»Sie bleibt also in London?«
»Natürlich.«
Hat das Kind etwa geglaubt, Miss Fitzrovia würde mit zur See fahren?
»Und Mara?«
»Bleibt bei Ihnen.« Ich schaue ernst und kann mir doch ein Lächeln nicht verkneifen. »Schwestern«, sage ich, »sollte man nicht trennen.« Und bevor Emily etwas erwidern kann, füge ich hinzu: »Sie werden in meinem Haus wohnen, sofern Ihnen das genehm ist. Peggotty wird für Ihr leibliches Wohl sorgen, und ich denke, dass Sie die Ausbildung, die Sie begonnen haben, beenden sollten. Eine gute Alchemistin werden Sie abgeben, das verspreche ich Ihnen.« Etwas mürrischer gebe ich allerdings zu bedenken: »Miss Anderson wird des Öfteren bei uns sein. Das Wohl der kleinen Mara liegt ihr sehr am Herzen, und ich glaube, es wäre falsch, ihr die Fürsorge zu verweigern.« Emily macht den Mund auf, um ihrem Schrecken Ausdruck zu verleihen. »Sagen Sie jetzt nichts«, bringe ich sie zum Schweigen, bevor sie etwas sagen kann. »Miss Anderson besitzt, wie man mir mitteilte, mehr Humor, als es den Anschein hat.« Doch entscheidend ist, dass sie das Kind liebt. Sie war es, die mir damals vorgeschlagen hatte, die kleine Mara dem Zugriff Mylady Manderleys zu entziehen.
»Die alte Frau ist nicht mehr bei Sinnen.«
Sie hatte es auf den Punkt gebracht.
Gab Mylady Manderley die Schuld daran, dass Mara nicht spricht.
»Miss Monflathers wird weiterhin Ihre Lehrerin sein. Denn wenn Sie in der uralten Metropole leben, gibt es keine andere Schule, die Sie besuchen könnten.« Wir sind an dem Punkt angekommen, an dem ich Emily darüber aufklären muss. Es wird nichts nützen, dieses Gespräch noch länger aufzuschieben. So oft schon hatte sie
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