Die verborgene Stadt - Die Prophezeiung
reckten die Köpfe und machten große Augen: Zum ersten Mal seit ihrer Thronbesteigung hatte die Königin eine so bescheidene Toilette gewählt: ein einfaches, dunkelgrünes Kleid, das Wseslawas perfekte Figur betonte und ihre zarten Schultern freiließ, ein Smaragddiadem und nur ein Ring. Diese schlichte Garderobe war noch erstaunlicher als die sonderbar exklusive Audienz. Mit gemischten Gefühlen versammelten sich die Anwesenden um den Thron.
»Meine treuen Untertanen«, begann Wseslawa, die ihren Ehrenplatz noch gar nicht eingenommen hatte, »die Neuigkeit, die ich euch heute mitzuteilen habe, hätte durchaus eine offizielle Einberufung des Großen Königsrats gerechtfertigt. Doch nach sorgfältiger Erörterung aller Aspekte mit einigen Priesterinnen des Grünen Hofs bin ich zu dem Entschluss gekommen, vom normalen Prozedere abzuweichen, um die Geheimhaltung zu wahren. Jeder von euch, meine geschätzten Barone, hat eine
persönliche Einladung zu dieser Audienz erhalten. In euren Domänen werdet ihr berichten, dass bei der Zusammenkunft Veränderungen in der Steuerpolitik der Krone besprochen wurden.«
»Wie Eure Majestät wünschen«, erwiderten die Untertanen und senkten unterwürfig die Köpfe, die vor Neugier zu platzen drohten.
Wseslawa trat an ihren Thron heran und strich mit der Hand über die mit grünem Samt bezogene Armlehne.
»Macht«, sagte sie nachdenklich, immer noch seitlich zu den Anwesenden gewandt, »Macht und Herrschaft. Wissen wir überhaupt noch, was das bedeutet? Die Zeiten, in denen sich der Grüne Hof wahrer Größe rühmen konnte, sind lange vorbei. Jahrhunderte sind vergangen seit jener Epoche, als unser Imperium diese Welt regierte und die aufgespannten Flügel des Tanzenden Kranichs ihren Schatten über die gesamte Erde warfen. Heute sind wir gezwungen, in dieser winzigen Stadt zu hausen, in der Nachbarschaft kleinwüchsiger Völker. Die wenigen Brosamen, die hier für uns abfallen, müssen wir mit anderen Verlierern teilen und uns wegen Nichtigkeiten mit ihnen streiten. Nicht zuletzt müssen wir uns verstecken und unser wahres Wesen verbergen. Unser Leben wurde zu einem sinnlosen Dahinvegetieren degradiert. Wir klammern uns an die nackte Existenz. Jeden Morgen begrüßen wir dankbar und schicksalsergeben die Sonne – wie einfältige Bauern, und mit jedem Tag entfremden sich unsere Kinder mehr von dem ruhmreichen Volk, dem sie selbst angehören. Es wimmelt von Halbbluten unter uns. Wir degenerieren.«
Unter den Baronen machte sich Unruhe breit. Noch nie hatte die Königin ein derart ernstes Thema aufgeworfen. Die letzte gewaltsame Auseinandersetzung zwischen den Herrscherhäusern lag bereits mehrere Jahre zurück. War dies ein Aufruf zu einem neuen Krieg?
»Beim Barte des Schlafenden, wir werden es diesen Gaunern zeigen – denkt an meine Worte!«, erhitzte sich begeistert Swetlomir, der sich inzwischen ein weiteres Glas Champagner hinter die Binde gegossen hatte. »Führe uns, Königin! Wir folgen dir!«
»Worauf können wir stolz sein?«, setzte Wseslawa unbeirrt fort. »Was wird uns die Zukunft bringen? Was hinterlassen wir unseren Kindern?«
Kein Zweifel, das bedeutete Krieg! Die Barone tauschten verstohlene Blicke. Krieg? Aber gegen wen? Gegen den Dunklen Hof? Wohl kaum. Wseslawa war jung und ungestüm, aber nicht verrückt. Oder erneut gegen die Tschuden?
»Es ist höchste Zeit, dass wir in der Verborgenen Stadt das Zepter übernehmen!«, echauffierte sich Swetlomir. »Beim Barte des Schlafenden, was für ein Glück, dass ich das noch erleben darf.«
Swjatopolk, der es inzwischen aufgegeben hatte, den in Fahrt gekommenen Greis am Rock zu zupfen, trank schweigend seinen warm gewordenen Champagner aus. Während des letzten Krieges war seine Domäne Perowo bei einem Angriff der Ritter fürchterlich unter die Räder gekommen, und der Baron war alles andere als erpicht darauf, ein neuerliches Desaster zu riskieren. Doch er schien mit seiner Meinung allein zu sein.
Die anderen Barone saugten begierig jedes Wort der Königin auf.
»Dies ist kein Aufruf zum Krieg!«
Ein Raunen der Enttäuschung ging durch den Saal.
»Vorläufig«, ergänzte Wseslawa mit einem Lächeln. »Stattdessen möchte ich euch an eine alte Prophezeiung erinnern, die vor achttausend Jahren ausgesprochen wurde.«
Vor achttausend Jahren hatte die Königin Isara, letzte Regentin des Großreichs Lud und bedeutendste Priesterin in der Geschichte des Grünen Hofs, in Vorahnung des drohenden Niedergangs all
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