Die verbotene Pforte
»Bestimmt wird er sterben! Welch tragisches Geschick! Irgendjemand sollte ein Lied darüber schreiben.«
»Klappe, Melpomene!«, kam Wanjas Stimme aus dem Raum. »Mach dich endlich vom Acker oder du wirst deine ganz persönliche Tragödie erleben – und zwar mit mir!«
Die Muse lachte rau, verbeugte sich theatralisch und zog sich zurück. Ihre Absätze klapperten auf dem Flur, dann wurde sie mit großem Hallo im Wirtsraum begrüßt.
»Ah, Anguana!«, knurrte Dopoulos. »Du kommst ja wie gerufen – unser Bote hier kann eine Glücksbringerin gut brauchen!«
Dr. Dian hatte den Pfeil entfernt. Nun stand die Waffe in der Ecke, die mit Widerhaken versehene Spitze noch feucht vom Blut des Boten. Tobbs schauderte beim Anblick der Widerhaken.
»Kommt er zu sich?«, fragte Wanja hoffnungsvoll. Tatsächlich regte sich der Fremde, blinzelte und murmelte etwas Unverständliches. Dr. Dian beugte sich über den Verletzten und lauschte angestrengt, während er sein Geweih festhielt. Dann nickte er Wanja zu.
»Arbeitest du für Jaga?«, fragte sie den Verwundeten. »Hat sie dich geschickt? Was ist passiert?«
Der Bote lächelte. »Jaga?«, wiederholte er. Dann begann er zu kichern. »Jagajagajaga«, sang er.
Wanjas gewaltige Pranken schlossen sich zu Fäusten. Tobbs sah ihr an, dass sie den Mann nur zu gerne durchgeschüttelt hätte.
»Genau. Baba Jaga. Meine Tante. Was lässt sie mir ausrichten?«, fragte sie betont langsam.
Der Bote machte ein ratloses Gesicht. »Ich verstehe nicht. Ich kenne keine Jaga.«
»Aber du trägst ihr Zeichen. Auf der Schulter! Den einbeinigen Hahn.«
Das erstaunte den Reiter noch mehr. »Ich habe einen Hahn?« Er lächelte glücklich, als hätte er soeben etwas sehr Hübsches gehört, und schlief ein.
»Sehr verdächtig«, brummte Dr. Dian. Er griff in seinen viel zu weiten Ärmel und zog einen Salzstreuer hervor. Diesen brachte er direkt über dem Brustbein des Boten in Position. Sandfeine Körnchen fielen auf die Haut. Ein Zischen erklang, dann verpufften die Körner in einem rosa rauchenden Blitz. Der Bote schreckte hoch und nieste.
»Gesundheit«, sagte Dr. Dian.
»Wirklich?«, fragte der Bote erstaunt. »Hört sich lustig an! Was ist das?«
Dr. Dian nickte und zog bedauernd die Brauen hoch. »Magimnesie«, stellte er fest. »Dachte ich es mir doch.«
Bedeutungsvoll verschränkte er die Arme und richtete sich auf. »Tja, da war jemand schlau genug, seine Spuren zu verwischen. Pech für den Verfolger, falls er den Boten erwischt hätte. Aber auch Pech für euch, denn von ihm werdet ihr nicht erfahren, was er euch sagen sollte.«
»Was heißt das?«, brauste Wanja auf.
»Magimnesie-Granulat«, erklärte Dr. Dian geduldig. »Reagiert auf Grottensalz – so kann man es nachweisen. Ganz neu auf dem Markt, kenne keinen, der es schon bei Menschen verwendet. Die Versuche an transtatanischen Affen lassen noch keine eindeutigen Rückschlüsse zu, ob Menschen es vertragen.«
»Und was bewirkt es?«, fragte Dopoulos.
»Bei den Affen? Sie fangen erst an zu kichern, vergessen, was sie sind, und verpuffen dann meistens zu rosa Rauchwolken …«
»Bei dem Boten! Was hat es bei dem Boten bewirkt?«
»Ach so. Nun, wenn es funktioniert, ist es eine sehr praktische Angelegenheit. Man zerstößt dieses Granulat in einem Mörser zu Pulver, das man mit Gänsefett verarbeitet. Diese magisch aufgeladene Substanz streicht man auf die Haut. Ganz ungefährlich ist das nicht, aber für Boten ein guter Schutz. Besser gesagt, für die Auftraggeber der Boten. Die Salbenschicht kann nach dem Botengang gefahrlos wieder abgewaschen werden – aber sobald die Haut verletzt wird, etwa durch einen Pfeil, dringt die Salbe ins Blut ein und bewirkt eine magische Amnesie. Gedächtnisverlust.«
»Das bedeutet also, ein Bote erinnert sich nicht mehr an seinen Auftrag und kann nichts ausplaudern«, sagte Wanja düster. »Und es ist die allerneueste Magie-Technologie. Das hört sich absolut nach meiner Tante an! Geht dieser Gedächtnisverlust vorbei? Wann weiß er wieder, weshalb sie ihn zu mir geschickt hat?«
Dr. Dian schnalzte mit der Zunge. »Hm, in einem Monat? Einem Jahr? Nun, es gibt noch keine Langzeitstudien zur Wirkung des Granulats.«
»Schon eine Woche wäre zu viel!«, donnerte Wanja. »Meine Tante ist ganz offensichtlich in großer Gefahr!«
»Bedaure«, sagte Dr. Dian kühl. »Gegen die Amnesie kann ich nichts machen. Die Wunde dagegen wird schnell heilen – ich habe sie mit
Weitere Kostenlose Bücher