Die verbotene Pforte
ursprüngliche Größe behalten hatte. Das grasgrüne Gewand, das streng nach Hirschfett roch, schleifte auf dem Boden und seine Hände waren beinahe zur Gänze von den Ärmeln verdeckt.
Bei Tobbs’ Anblick runzelte er die Stirn und musterte dessen blau und silbern gefärbtes, stachlig geschnittenes Haar.
»Simple Blausucht«, murmelte er. »Und deshalb ruft ihr mich?«
»Das ist nicht der Patient«, beeilte sich Dopoulos zu entgegnen. »Wir haben einen Verwundeten im Hinterzimmer!«
»Ich habe lange gebraucht, um Dr. Dian zu finden«, sagte die große Dame, die nun hinter dem Arzt den Wirtshausflur betrat. Tobbs kannte sie. Es war Dopoulos’ Cousine Melpomene, eine überkandidelte Person, die Wanja gerne als »Drama-Queen« bezeichnete. Sie arbeitete als Muse in dem größten Theater von Kandara – Fachbereich »Tränenreiche Tragödien«. Weinlaub zierte ihr geflochtenes schwarzes Haar, das vortrefflich zu ihren dunklen Augenringen passte. »Er war auf einer Party auf Likonos«, fuhr sie fort. »Es war gar nicht so einfach, ihn vom Büfett loszueisen.«
»Danke, Mel! Hauptsache, er ist jetzt überhaupt da«, sagte Dopoulos und eilte mit klirrenden Schlüsseln voraus. Die Cousine schenkte Tobbs ein Lächeln, das er höflich erwiderte. »Mir gefällt deine Frisur«, meinte sie. »Blau und silbern – hübsch! Vielleicht ein bisschen zu fröhlich, aber sonst steht sie dir ganz gut.«
Tobbs strich sich verlegen über sein Haar.
»Ist der Verwundete inzwischen nicht schon längst gestorben?«, fragte die Muse. Seltsamerweise klang sie alles andere als besorgt, und als Tobbs den Kopf schüttelte, zuckte sie tatsächlich enttäuscht mit den Schultern. »Na ja«, seufzte sie dann. »Was noch nicht ist …«
Sie lächelte Tobbs verschwörerisch zu und folgte mit energischen Schritten dem Arzt, der schon vorauseilte. Mit einer Hand stützte er sein Hirschgeweih, das sich immer wieder in den Fliegenfängern verhedderte, die von der Decke hingen.
Tobbs lehnte sich gegen die Wand und atmete tief durch. Seine Knie waren immer noch ganz zittrig. All die kaum verblassten blauen Flecken machten nun nachdrücklich auf sich aufmerksam und begannen zu schmerzen. Und die neuen Prellungen leisteten ihnen eifrig Gesellschaft.
Einen Augenblick lang wünschte er sich sehnlichst, Dr. Dian hätte seine geschundene Stirn und die Prellungen an Armen und Schienbeinen bemerkt. Es hätte einfach gutgetan, wenn irgendjemand danach gefragt hätte, wie er sich nach dem Zusammenstoß mit einer Eichentür und einem Pony fühlte. Aber niemand schien auf die Idee zu kommen, dass auch er eine schlimme Nacht hinter sich hatte.
»Tobbs?« Der leise Ruf kam aus der offenen Kellertür. Anguana! Endlich ein nettes Gesicht!
Das Mädchen trat auf den Flur. Und es war … tropfnass! Wasser floss aus Anguanas langen blonden Haaren, das blaue Kleid klebte ihr am Körper. Ihre Wangen glühten rot, als wäre sie den ganzen Weg aus den Bergen zur Taverne gerannt.
Vor lauter Aufregung vergaß sie sogar, sich den Rock zurechtzuzupfen, und Tobbs konnte für einen Augenblick den kleinen Ziegenhuf sehen.
»Dem Glück sei Dank, Tobbs, du bist es nicht!«, rief Anguana aus tiefster Seele und begann zu strahlen. »Ich habe es von einer der Quellnymphen gehört. Es hieß, jemand sei heute Nacht schlimm verletzt worden.«
»Ja, ein Bote aus Wanjas Heimat. Ich bin von seinem Pony umgerannt worden.«
»Von einem Pony? Oje – das hat bestimmt wehgetan. Geht es dir gut?«
Tobbs lächelte und ihm wurde warm. »Klar«, sagte er lässig. »War halb so schlimm. Warum kommst du nicht durch die Tür?«
Anguana wrang ihr Haar aus. Eine Wassermenge, die ausgereicht hätte, einen mittelgroßen Gartenteich zu füllen, verwandelte die Kellertreppe in einen plätschernden Wasserfall. »Durch euren Kellerbrunnen ging es schneller. Ist eine Abkürzung über die Dalamit-Quelle bei mir zu Hause. Jetzt erzähl, warum ist der Bote zu euch in die Taverne geflohen? Gibt es Krieg im Land der Rusaner?«
»Nein, er hat eine Nachricht – für einen gewissen Iwan.«
Anguana runzelte die Stirn. »Iwan? Wer soll das sein?«
»Das werden wir erfahren, sobald Dr. Dian den Boten wieder zu Bewusstsein gebracht hat. Komm mit!«
Die schwarzhaarige Muse hatte die Tür zum Krankenzimmer halb geöffnet und lehnte im Türrahmen. Als sie Tobbs und Anguana bemerkte, grinste sie konspirativ und winkte sie heran.
»Er ist sehr schwer verletzt«, sagte sie und ihre Augen leuchteten.
Weitere Kostenlose Bücher