Die verbotene Pforte
auf seinen Wangen. Und trotz des Seils schlug der Sattel schmerzhaft gegen sein Gesäß, als würde ihn jemand erbarmungslos verprügeln. Nur schemenhaft erkannte er, dass sie den Wald hinter sich ließen und auf eine Kette von runden Hügeln zusteuerten. Tobbs erinnerte sich vage, dass Wanja von den neun Hügeln hinter dem siebten Königreich erzählt hatte. Mühsam hob er den Kopf und sah, wie die Schmiedin – ein kleiner Punkt am Horizont – gerade über der Hügelkuppe verschwand.
Das Pony quiekte entrüstet und legte die Ohren an. Tobbs ahnte Schlimmes. Dieses ehrgeizige Bündel Fell und Hufe konnte es ganz eindeutig nicht leiden, der Zweite in der Reihe zu sein. Die Muskeln spannten sich und der mörderische Galopp verwandelte sich in den glatten Flug eines Pfeils. Wenn Tobbs nun hinunterblickte, sah er keine Beine mehr, nur noch ein weißliches Etwas wie einen Nebelschweif. Der herrenlose Zügel flatterte und klatschte ihm wie eine Peitsche über die Wange, aber er traute sich nicht, die Hände von der Mähne zu nehmen und ihn zu ergreifen. Wenn er jetzt das Gleichgewicht verlor und zur Seite kippte, würden die rasenden Hufe ihn schreddern und seine kläglichen Reste unter die Schneewehen baggern, ehe er »Fiep!« sagen konnte. Also duckte er sich noch tiefer über den Hals und betete zu Kali und allen anderen Göttern, dass das Pony zur Vernunft kommen würde.
Doch das Tier hatte andere Pläne.
Nachteulen flatterten lautlos auf, gelbe Fuchsaugen leuchteten im Mondlicht. Der erste Hügel raste vorbei, der zweite – und der dritte. Tobbs fühlte längst seine Hände nicht mehr und seine Nase, das wusste er mit Sicherheit, würde ihm jeden Augenblick gefroren aus dem Gesicht fallen. Seine Knie zitterten bereits vor Erschöpfung. Irgendwann musste diesem Psychopathen auf vier Hufen doch die Puste ausgehen!
Als er das nächste Mal den Kopf hob und blinzelte, entdeckte er, dass Wanja nicht mehr weit entfernt war. Und nun blickte sie sich auch noch über die Schulter nach ihm um! Ihr grimmiges Gesicht schwebte wie das bleiche Antlitz einer sehr wütenden Göttin über dem Pelzkragen. Aus. Seine Tarnung war aufgeflogen.
Dann sah er, wie Wanja Schwung holte – und sich mit einer wendigen Bewegung auf dem Pferderücken umdrehte! Wie ein Zirkusreiter saß sie in halsbrecherischem Galopp verkehrt herum auf Rubin. Ebenso flink griff sie hinter sich und zog einen langen Gegenstand hervor.
Tobbs brauchte ganze fünf Galoppsprünge, um das Unbegreifliche zu begreifen: Das lange Ding in ihrer Hand war ein Jagdgewehr, mit dem sie nun auf ihn zielte. Sie hatte ihn gar nicht erkannt! Wie auch? Sie sah ja nur einen Reiter mit Pelzmütze, der sie in halsbrecherischem Tempo verfolgte. Wanja würde ihn erschießen. Er würde stürzen, die Hufe würden ihn in die Schneewehe stampfen. Und im Frühjahr würden die Bären seine kläglichen Reste aus den halb geschmolzenen Schneehaufen graben und mit seinem Schädel Fußball spielen.
»Wanja, nein!«, brüllte er.
Die Schmiedin stutzte. Ganz von selbst löste sich Tobbs’ rechte Hand von der Mähne und riss die Fellmütze vom Kopf. Hoffentlich sah Wanja im Mondlicht das blaue Haar!
»Ich bin’s! Tobbs! Nicht schießen!«
Wanja riss die Augen auf, ihr Kiefer klappte nach unten und der Gewehrlauf senkte sich – genau in dem Moment, als Tobbs an ihr vorbeischoss und das Pony ein hämisches Wiehern von sich gab, für das es sicher oft heimlich auf der Weide geübt hatte. Dann waren sie schon vorbei und das Pony raste weiter. Irgendwo auf der Welt gab es sicher noch weitere Pferde, die es überholen konnte.
»…obbs!«, hörte Tobbs noch Wanjas verwaschenen Ruf, dann war er allein. Und ohne Mütze. Verzweifelt blickte er nach links und rechts. Keine Rettung in Sicht. Bei einem kurzen, balancetechnisch sehr gewagten Blick über die Schulter entdeckte er, dass Wanja wieder richtig herum saß und die Verfolgung aufgenommen hatte, allerdings war dem Pony auch nicht entgangen, dass der Konkurrent ihm wieder auf den Fersen war.
Hügel Nummer vier.
Er hatte nur eine Chance: Er musste von diesem wahnsinnigen Tier runter. Und zwar bald.
Hügel Nummer fünf.
Verzweifelt hielt Tobbs nach einer besonders weichen Schneewehe Ausschau, aber die Aussichten waren mau. Immer dichter wurden die Bäume, manchmal streiften seine Knie schmerzhaft die dünnen Baumstämme, denn das Pony konnte zwar rennen, aber mit seinem Augenmaß war es weniger gut bestellt. Für Tobbs war es ein
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