Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
berichteten, in einer Stimmlage, als läsen sie aus einem Telefonbuch vor. Sie klangen wie betäubt. Wer so redet, dem kann man nicht lange zuhören.
Erst jetzt, im Alter, fangen viele Menschen an zu begreifen, wie stark sie von ihren frühen Verlusten und Bedrohungen geprägt wurden. Der Prozess der Rekonstruktion der eigenen Kriegskindheit wird in seinem Ergebnis überwiegend als entlastend, wenn nicht gar als befreiend erlebt. In meinem Bekanntenkreis fällt mir immer wieder auf, wie stark sich während dieser »Befreiungsarbeit« Sprache und Stimmlage verändern. Beides wird lebendiger. Das schlägt sich auch in den Fernsehbeiträgen zum Thema nieder. Wenn Zeitzeugen Zugang zu ihren Gefühlen haben, berühren uns ihre Aussagen tief. Nach langem Schweigen haben viele Kriegskinder endlich ihre Sprache gefunden – und sie werden gehört.
»Ich konnte meine Kinder nicht lieben«
Wie der Münchner Arzt und Traumaforscher Michael Ermann beobachtet hat, sind viele Angehörige der Kriegskinder-Jahrgänge in ihrer Identität verunsichert. Nicht selten haben sie dasGefühl, ihren Platz in dieser Welt noch nicht gefunden zu haben. Die beschädigte Identität ist eine Folge davon, dass die wichtigsten Prägungen so lange nicht zur Kenntnis genommen wurden. Michael Ermann erklärt: »Ohne Erinnerungsarbeit gibt es kein Gefühl der Kontinuität des eigenen Lebens – ohne diese gibt es keine positive Identität.« Darum also geht es vielen Kriegskindern, wenn sie sich im Alter ihren frühen Erinnerungen zuwenden: Sie wollen das brüchige Lebensgefühl in eine positive Identität verwandeln. Sie spüren, dass sie diesen Weg gehen müssen, um in ihrem letzten Lebensabschnitt inneren Frieden zu finden.
Heute wissen wir: Waren Mutter und Vater in ihrem Lebensgefühl und in ihrer Identität verunsichert, konnten sie ihren Kindern wenig Orientierung geben. Auch viele Kinder der Kriegskinder, die »Kriegsenkel«, beklagen, wie sehr sie sich durch das Schweigen und durch Familiengeheimnisse belastet fühlen – Geheimnisse, die ihrer Ansicht nach bis heute Spannungen zwischen den Generationen verursachen. Häufig wird gesagt: »Ich kann meine Eltern emotional nicht erreichen – das hat irgendwie mit dem Krieg zu tun.« Ich habe den Eindruck, die Hälfte der Leserinnen und Leser der »Vergessenen Generation« sind Kinder der Kriegskinder, die mehr über ihre Eltern wissen wollen. Sie bedanken sich bei mir, weil ihnen die Lektüre zu mehr Verständnis für Mutter oder Vater verholfen habe. In jeder zweiten E-Mail steht, man hoffe, die Beziehungen zwischen den Generationen würden sich künftig bessern.
Gelegentlich kommen Erfolgsmeldungen. Es gibt durchaus Familien, in denen die Vergangenheit der Eltern und Großeltern kein Tabu mehr ist und offen besprochen wird. Aber ein solcher Austausch ist weit seltener, als die unübersehbare Medienpräsenz des Themas vermuten lässt. In einer Vielzahl von Mails wurde ich gebeten, mich der stillen Dramen der Kinder der Kriegskinder anzunehmen. An Gesprächspartnern herrschte kein Mangel.
Kriegsenkel
2009 erschien mein Buch »Kriegsenkel – Die Erben der vergessenen Generation«. Auch einige Kriegskinder scheinen es gelesen oder doch zumindest durch ihre Kinder davon gehört zu haben. Ein Dutzend älterer Menschen äußerte mir gegenüber offen Empörung. Tenor: Da habe man es so schwer gehabt im Leben, und nun solle man noch schuld sein an den Problemen seiner erwachsenen Kinder, die ja nichts Schlimmes erlebt hätten. Sie wehrten die Thematik ab, denn: Ihren Kindern geschadet zu haben und dennoch von Schuld frei zu sein, diese Kombination konnten sie einfach nicht für möglich halten. Auf der anderen Seite stellt inzwischen bei jeder Kriegskinder-Lesung eine Mutter die Frage: »Was mögen wir an unsere Kinder weitergegeben haben?« Vor allem macht man sich Gedanken darüber, ob man seinen Kindern ausreichend Vertrauen ins Leben vermitteln konnte.
Eine Frau bat am Ende einer Lesung darum, mich unter vier Augen zu sprechen. Erst schwieg sie, dann begann sie zu zittern, und ihr entfuhr der Satz: »Ich konnte meine Kinder nicht lieben!« Dies sei ihr aber erst bewusst geworden, seit sie wisse, dass sie ein Kriegskind sei. Als Traumatisierte habe sie keine Gefühlstiefe besessen, sie sei wohl »wie betäubt« gewesen. Nun aber, in psychotherapeutischer Behandlung, spüre sie, wie sie emotional erwache. Die Beziehung zu ihren Kindern habe sich seitdem deutlich gebessert. »Auch meine Kinder
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