Die vergessene Generation: Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
zurückliegenden Vergewaltigung sein kann, ist bei den wenigen Frauen deutlich geworden, die so mutig waren, sich im Alter dazu öffentlich zu äußern. Nicht selten waren die Opfer noch Kinder.
Während meiner Recherchen über deutsche Kriegskinder war ich mehrfach darauf aufmerksam geworden. Über zwei Fälle hatte ich in meinem Kriegskinderbuch geschrieben. Später stellte sich heraus: Es waren noch zwei weitere Frauen, deren Geschichte ich veröffentlicht hatte, als Mädchen vergewaltigt worden. Zu dem Zeitpunkt, als ich sie interviewte, konnten sie darüber nicht reden. Eine der Frauen, damals elf Jahre alt, erklärte mir dazu: »Ich hatte mich zusammen mit den Frauen im Keller versteckt. Die Soldaten haben uns dort natürlich gefunden und sich jede gegriffen. Da wurde nicht unterschieden. Es war völlig dunkel im Keller.«
Und es gab eine weitere Frau, deren Worte ich nie vergessen werde. Bei einer Lesung meldete sie sich aus der ersten Reihe zu Wort. Zu meiner Überraschung stand sie sogar auf. Ich sehe sie noch vor mir: klein, schmal, hängende Arme, Ponyfrisur. Ich erinnere mich, was ich als Erstes bei ihrem Anblick dachte: Sonderbar, sie sieht aus wie eine Sechsjährige. Und tatsächlich bestätigte sie mich in gewisser Weise, denn sie begann mit folgenden Worten: »Ich war mit sechs Jahren auf der Flucht. Wir waren eine ganz kleine Gruppe: meine Mutter, die Großmutter und zwei Tanten.« Eines Tages sei die Erschöpfung so groß gewesen, fuhr sie fort, dass ein Bauer ihnen angeboten habe, ein paar Tage auf seinem Hof zu bleiben und sich auszuruhen. Am folgenden Tagsei dann plötzlich große Unruhe entstanden. Der Grund: Mehrere Russen näherten sich dem Hof. Und da sei den Frauen eine Idee gekommen. Ihr, der Kleinen, dem einzigen Kind, sei aufgetragen worden, es solle allein zum Tor gehen und die Soldaten dort erwarten. Die Flüchtlingsfrauen hätten sich eingeredet: »Die Russen sind doch so kinderlieb, da wird uns schon nichts geschehen.« Aber die Soldaten hätten gerufen: »Wo Kind ist, ist Frau!« Dann seien sie über ihre Mutter, die Großmutter und die Tanten hergefallen. Die Zeitzeugin schloss mit dem Satz: »Ihre Schreie höre ich heute noch.«
Auffällig waren zwei Erinnerungsmotive, die bei fast allen Veranstaltungen während der ersten zwei Jahre zur Sprache kamen (danach jedoch kaum noch): Im ersten Fall handelte es sich um Traumata durch Tiefflieger. Es waren immer die gleichen Sätze: »Ich konnte den Piloten sehen! Wie ist das möglich, dass Männer auf Kinder schießen?« Fragen dieser Art lassen Menschen ein Leben lang nicht los. Die erlebten Ängste sitzen tief, sehr tief.
Bei dem zweiten Erinnerungsmotiv ging es darum, dass Angehörige der Dreißigerjahrgänge Zeugen von nationalsozialistischer Gewalt gewesen waren. Als Kinder hatten sie gesehen, wie Zwangsarbeiter gedemütigt wurden, wie jüdische Nachbarn auf einen Lastwagen steigen mussten, wie Trupps von Kriegsgefangenen und KZ-Häftlingen vorbeizogen – und wie erbarmungslos sie behandelt wurden, wie verhungert sie aussahen. Die meisten Eltern sagten nur: »Guck da nicht hin.« Gerade den damals kleineren Kindern, deren Gerechtigkeitsgefühl noch nicht von den Unter- und Herrenmenschenkategorien verbogen war, haben sich die Szenen von Entrechtung und brutaler Misshandlung tief ins Gedächtnis eingebrannt.
Was mir aber erst heute auffällt: Nicht nur die Eltern haben lange Zeit geschwiegen oder behauptet, sie hätten »von nichts gewusst«, sondern auch die Altersgruppe der älteren Geschwister, die im Unterschied zu den in den letzten Kriegsjahren Geborenen durchaus Erinnerungen an die NS-Zeit hatten. Ihnen, die als Kinder nicht hinschauen und erst recht nicht über die Verbrechenreden sollten, ihnen, die dafür nie eine Sprache gefunden hatten, war auch noch Jahrzehnte später der Mund versiegelt. Dass sie erst heute als alte Menschen darüber reden können, bewegt mich sehr, und es scheint mir ein Hinweis darauf zu sein, dass bei ihnen Scham und Schuldgefühle noch stärker ausgeprägt waren als bei den Jüngeren; das erklärt, warum viele ihr Misstrauen gegenüber der deutschen Mentalität nie überwanden. Ich fing an zu begreifen, weshalb die Angst, es könne zu einem Rückfall in die Barbarei kommen, viele Menschen zeitlebens begleitete.
Ich erinnere mich, wie sehr es mich in den ersten Jahren meiner Recherchen für dieses Buch irritierte, wenn die Interviewpartner völlig emotionslos von ihren Kriegsschrecken
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