Die Verlassenen
VIOLET
Als Violet Tisdale verschied, saß Ree Hutchins am Bett der alten Frau und schlief, eine zerlesene Ausgabe von Ruf der Wildnis aufgeschlagen auf dem Schoß.
Ree war so erschöpft von ihrem hektischen Tagesablauf, dass sie eingenickt war, als sie in dem ledergebundenen Roman gelesen hatte, der immer auf Miss Violets Nachttisch lag. Ree fragte sich oft, wie viele Male die alte Frau die Geschichte von Buck wohl schon gehört hatte während ihrer Zeit in der Nervenheilanstalt, dem Milton H. Farrante Psychiatric Hospital . Sie war schon Mitte achtzig, und niemand konnte sich erinnern, dass sie je woanders gelebt hatte als in der geschlossenen Abteilung dieser Klinik. Abgesehen von ihrer Kleidung und ein paar Toilettenartikeln war das Buch der einzige persönliche Gegenstand in ihrem Zimmer, obwohl es in der Widmung im Einband hieß: Für meine Tochter Ilsa zu ihrem zehnten Geburtstag. 3. Juni 1915.
Das zerfledderte Buch war also mit Sicherheit ein Erbstück von irgendeinem ehemaligen Betreuer oder vielleicht auch von einem anderen Patienten, denn niemand konnte sich erinnern, wann Miss Violet zum letzten Mal Besuch gehabt hatte.
Ree wachte zitternd vor Kälte auf, als ein eisiger Lufthauch in den Raum sickerte. Die Neon-Leselampe über ihrer Schulter flackerte, und sie erinnerte sich später, dass die Uhr auf dem Nachttisch genau um 20.30 Uhr stehen geblieben war. Draußen hatte inzwischen die Abenddämmerung eingesetzt, und das hieß, dass sie fast eine ganze Stunde geschlafen hatte. Miss Violet lag da, gegen die Kissen gelehnt, mit offenen Augen, die nicht mehr sehen konnten, mit geöffneten Lippen, die für immer verstummt waren. Sie war noch nicht lange tot. Ihr Handgelenk war immer noch warm, wie Ree feststellte, als sie ihren Puls fühlte.
Ree klappte das Buch zu und legte es zur Seite, dann stand sie von ihrem Stuhl auf und rief eine Krankenschwester. Trudy McIntyre kam sofort mit einem Stethoskop und einem Spiegel, untersuchte die Tote kurz und ging dann wieder, um die zuständigen Behörden zu informieren. Da Ree nicht wusste, was sie sonst hätte tun sollen, folgte sie ihr nach draußen.
„Was ist mit den nächsten Angehörigen?“
Trudy war eine tüchtige Frau mit einem verhärmten Gesicht und müden Augen. Sie arbeitete schon sehr lange in der Anstalt. „Soweit ich weiß, gibt es keine nächsten Angehörigen. Ich denke, dass Dr. Farrante sich persönlich um alles kümmern wird. Das hält er in solchen Fällen immer so.“
Ree brauchte bloß seinen Namen zu hören, und schon begann ihr Herz zu flattern. Dr. Nicholas Farrante war nicht nur eine Nummer zu groß für sie, er war auch viel zu alt für ernsthafte romantische Vorstellungen. Doch das hinderte weder sie noch die anderen Studenten weiblichen Geschlechts der Fakultät für Psychologie an der Emerson University daran, bei jedem Wort, das er von sich gab, an seinen Lippen zu hängen. Dabei hätte Ree das Thema „Experimentelle Psychologie und der menschliche Alterungsprozess“ auf jeden Fall faszinierend gefunden, ganz egal, wer der Dozent war. Aber Dr. Farrantes Vorlesungen waren eben nicht nur wegen seines Charmes und seines Charismas etwas Besonderes; es gab auch noch andere Gründe: Seine Familie war führend auf dem Gebiet der Entwicklungspsychologie, bis zurück zu seinem Großvater, Dr. Milton H. Farrante, der ein Schüler von Wilhelm Wundt gewesen war, dem Begründer der modernen Psychologie.
Milton hatte die Nervenheilanstalt Anfang des 20. Jahrhunderts eröffnet, und fast einhundert Jahre lang war sie eine der herausragenden psychiatrischen Privatkliniken des Landes gewesen. Ree hatte großes Glück gehabt, dass sie in diesem Haus ein Volontariat machen durfte, denn sogar die unbezahlten Posten waren hier schnell vergeben und gingen in aller Regel an die Doktoranden, deren Familien viel mehr Macht und Einfluss hatten als ihre eigene.
Als sie Trudy zu deren Schreibtisch folgte, kämpfte Ree gegen den unerklärlichen Drang an, sich umzudrehen. „Können wir wenigstens kurz in die Unterlagen schauen? Es muss da draußen doch irgendjemanden geben, der wissen möchte, dass Miss Violet tot ist.“
Mit einem lauten Seufzer schaute Trudy auf. „Mein Kind, ich arbeite seit über fünfundzwanzig Jahren in diesem Haus, und die ganze Zeit hat sich hier keine Menschenseele blicken lassen, um die alte Frau zu besuchen. Ich bin überzeugt, dass von ihrer Familie schon keiner mehr lebt. Oder es ist ihnen egal, was mit ihr ist. Jedenfalls
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