Die Verschollenen
EINS
B ecka wusste, dass sie ertrinken würde. Keuchend füllte sie ihre Lungen, bevor die nächste heftige Welle sie in das türkisblaue, aufgewühlte Wasser drückte. Als sie versank, verschwanden alle Geräusche außer ihrem Herzschlag, der in ihren Ohren dröhnte. Das Salzwasser brannte in ihren Augen. Das Licht schwand. Ihre Muskeln schmerzten, und ihre Lungen brannten, als sie tiefer hinabsank. Trotz der Schmerzen trat sie um sich und schlug mit den Armen. Blasen umgaben ihren Körper wie ein Heiligenschein. Beckas Kopfschmerzen, die sie in den letzten Tagen ständig gequält hatten, pochten im Rhythmus ihres Herzschlags. In den letzten zwei Wochen hatte sie sehr wenig Wasser und Nahrung zu sich genommen. Jetzt forderten die Erschöpfung, der Wassermangel und der Hunger ihren Tribut.
Sie hätte sich niemals bei Castaways bewerben dürfen. Es jede Woche im Fernsehen zu sehen war etwas ganz anderes, als selbst an der Show teilzunehmen. Das Betrachten des Bildschirms forderte keine Schmerzen, keine Opfer und keinen lebensgefährlichen Körpereinsatz.
Wie war sie überhaupt dazu gekommen, jetzt hier in den Gewässern um eine unbewohnte Insel im Südpazifik zu ertrinken? War die Chance, ins Fernsehen zu kommen und vielleicht eine Million Dollar Preisgeld zu kassieren, das alles wert? Das war doch Wahnsinn. Sie konnte und wollte das nicht. Sie hatte sich aus einer Laune heraus beworben und niemals geglaubt, es in die letzte Runde zu schaffen. Sie hatte einfach das Onlineformular ausgefüllt, wie ungefähr eine halbe Million anderer Leute auch. Sie hätte eigentlich niemals genommen werden dürfen. Trotzdem war sie hier, als eine der zwanzig Auserwählten - eine einundzwanzigjährige Absolventin der Penn State University, die, da sie keinen Job finden konnte, noch bei ihren Eltern lebte. Noch vor einem Monat war sie zu Hause auf Jobbörsen gegangen und hatte verzweifelt versucht, sich selbst zu finden. Irgendetwas zu finden. Jetzt war sie hier, am schönsten Ort, den sie je gesehen hatte, und war so erschöpft und demoralisiert, dass sie es nicht einmal genießen konnte.
Die Versuchung war groß, einfach die Augen zu schließen, auszuatmen und langsam auf den Meeresgrund zu sinken. Die anderen auf der Insel wollten Ruhm, Berühmtheit oder Reichtum. Sollten sie doch. Sie wollte nichts mehr davon. Vielleicht hatte sie das mal gewollt, auch wenn es nur eine Laune gewesen war. Sonst wäre sie nicht hier. Was Becka in diesem Moment wollte, war nichts als Vergessen -
die gnädige Ruhe der Bewusstlosigkeit. Den brennenden Kuss des Todes. Einfach nur lange schlafen.
Das Wasser fühlte sich an wie eine Decke, weich und tröstlich.
Becka schloss die Augen und ließ sich von der Decke umschließen.
… schlafen.
Nein, verdammt.
Das deprimierende Gefühl der Sinnlosigkeit wurde von Frustration und Ehrgeiz verdrängt. Scheiß drauf. Sie war nicht so weit gekommen, um jetzt aufzugeben. Sie war hier, um zu gewinnen. Egal, wie stark ihre Schmerzen waren, Rückzug kam nicht infrage, Aufgeben kam nicht infrage. Noch nicht. Ihre Familie und die meisten ihrer Freunde würden es verstehen, wenn sie ausstieg, aber das waren nicht die Einzigen, um die Becka sich Gedanken machen musste. Es gab noch andere - die riesige, gesichtslose Masse im Internet, die ganz heiß darauf war, sich einzuloggen und ihre Meinungen und Kritik zu zahllosen belanglosen Ikonen der Popkultur auszutauschen, zu denen auch sie gehörte. Vor einem Monat war sie ein Niemand gewesen, mit gerade mal acht Leuten, die regelmäßig ihren Blog gelesen hatten. Wenn das hier ausgestrahlt wurde, würde jeder in Amerika, der einen Fernseher besaß oder Zeitung las, ihren Namen und ihr Gesicht kennen. Sie war ein Fernsehstar - oder würde es zumindest sein, sobald die Sendung lief.
Innerhalb kürzester Zeit hatte Becka auch gelernt, was andere, die in der Öffentlichkeit standen, bereits vor ihr gewusst hatten - Ruhm oder Berühmtheit (was oft dasselbe war) waren eigentlich beschissen. Erst lechzte man danach, bis man sie hatte, und dann wollte man sie nicht mehr.
Und sie hatte sie noch nicht einmal.
Aber es gab keinen Weg zurück.
Angetrieben von ihrer Wut biss Becka die Zähne zusammen und schwamm mit heftigen Tritten Richtung Oberfläche. Ein lebender Regenbogen aus tropischen Fischen flutete um sie herum, gejagt von einer gräulich-weißen Seeschlange mit auffälligen schwarzen Ringen am ganzen Körper. Becka zögerte. Sie musterte den abgeflachten Schwanz der
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