Die vierte Hand
Verlust seiner linken Hand waren Wallingfords am leidenschaftlichsten gehüteter Besitz. Es machte ihn wütend, daß seine Exfrau seine Schmerzen bagatellisierte, indem sie sie für geringer erklärte als ihre »ganz normalen« Wehenschmerzen, wie er gern sagte. Auch auf die Behauptung seiner Exfrau, er sei zwanghaft hinter den Frauen her, reagierte Wallingford nicht immer ausgeglichen. Seiner Meinung nach war er nie hinter den Frauen her gewesen. Das hieß, Wallingford verführte keine Frauen; er ließ sich einfach von ihnen verführen. Er rief sie nie an - sie riefen ihn an. Er glich einem Mädchen, das nicht nein sagen konnte - nur war er eben ein Junge, wie seine Exfrau zu sagen pflegte. (Patrick war Ende Zwanzig, Anfang Dreißig gewesen, als seine damalige Frau sich von ihm scheiden ließ, aber Marilyn zufolge war er immer ein kleiner Junge geblieben.)
Den Posten eines Moderators, der ihm bestimmt zu sein schien, hatte er noch immer nicht ergattert. Und nach dem Unfall trübten sich Wallingfords Aussichten. Irgendein Programmdirektor führte den »Zimperlichkeitsfaktor« an. Wer will die Morgen- oder Abendnachrichten schon von einem armen Schwein präsentiert bekommen, das sich von einem hungrigen Löwen die Hand hat abbeißen lassen? Das Ereignis mochte weniger als dreißig Sekunden gedauert haben - der gesamte Bericht war nur drei Minuten lang -, aber niemand, der einen Fernseher besaß, hatte es verpaßt. Ein paar Wochen lang lief es wiederholt in der Glotze, weltweit. Wallingford war in Indien. Sein Nachrichtensender, den die Snobs in der Medienelite wegen seiner Vorliebe für Desaströses häufig als Apokalypse International oder ›Katastrophenkanal‹ bezeichneten, hatte ihn zu einem indischen Zirkus in Gujarat geschickt. (Kein vernünftiger Nachrichtensender hätte einen Sonderkorrespondenten von New York zu einem Zirkus in Indien geschickt.)
Der Great Ganesh Circus trat gerade in Junagadh auf, und eine seiner Trapezkünstlerinnen, eine junge Frau, war abgestürzt. Sie war berühmt für das »Fliegen« - wie die Arbeit solcher Künstler genannt wird - ohne Sicherheitsnetz, und bei dem Sturz aus einer Höhe von fünfundzwanzig Metern kam zwar nicht sie selbst, wohl aber ihr Ehemann und Trainer, der versuchte, sie aufzufangen, ums Leben. Obwohl ihr herabfallender Körper ihn erschlug, schaffte er es, ihren Sturz zu dämpfen.
Der indische Staat untersagte umgehend das Fliegen ohne Netz, und der Great Ganesh, wie auch andere kleine Zirkusse in Indien, protestierte ebenso umgehend gegen diese Regelung. Seit Jahren schon versuchte ein bestimmter Minister und übereifriger Tierschützer die Verwendung von Tieren in indischen Zirkussen verbieten zu lassen, und daher reagierten die Zirkusse empfindlich auf staatliche Eingriffe jeder Art. Außerdem drängten sich - wie der leicht erregbare Direktor des Great Ganesh Circus Patrick Wallingford vor laufender Kamera erklärte - die Zuschauer jeden Nachmittag und Abend im Zelt, eben weil die Trapezkünstler ohne Netz arbeiteten.
Daß die Netze ihrerseits in furchtbar schlechtem Zustand waren, hatte Wallingford bereits festgestellt. Von seinem Standort auf der trockenen, festgestampften Erde - dem »Boden« des Zeltes - aus sah Patrick im Aufblicken, daß das Maschenmuster zerfetzt und zerrissen war. Das Ganze ähnelte einem riesigen Spinnennetz, das ein in Panik geratener Vogel zerstört hat. Es war zweifelhaft, ob das Netz das Gewicht eines herabstürzenden Kindes, geschweige denn das eines Erwachsenen, halten konnte.
Viele der Künstler waren tatsächlich Kinder, und diese hauptsächlich Mädchen. Ihre Eltern hatten sie an den Zirkus verkauft, damit sie ein besseres (sprich sichereres) Leben hatten. Dabei bestand beim Great Ganesh ein enormes Risiko. Der leicht erregbare Zirkusdirektor hatte die Wahrheit gesagt: Die Zuschauer drängten sich jeden Nachmittag und Abend im Zelt, um Unfälle zu sehen. Und oft waren die Opfer dieser Unfälle Kinder. Als Künstler waren sie begabte Amateure, gute kleine Sportler, aber sie waren unzureichend ausgebildet.
Warum die meisten Kinder Mädchen waren, dieses Thema hätte jeden guten Journalisten interessiert, und Wallingford war - ob man das Persönlichkeitsbild, das seine Exfrau von ihm zeichnete, glaubte oder nicht - ein guter Journalist. Seine Intelligenz lag hauptsächlich in seiner Beobachtungsgabe, und das Fernsehen hatte ihn gelehrt, wie wichtig es ist, einen Riecher für das zu entwickeln, was schiefgehen könnte.
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