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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Ebendieser Riecher war zugleich die große Stärke und die große Schwäche des Fernsehens. Das Fernsehen wurde von Krisen, nicht von hehren Anliegen umgetrieben. An seinen Aufträgen als Sonderkorrespondent des Nachrichtensenders enttäuschte Patrick vor allem, wie häufig es vorkam, daß man eine wichtigere Story verpaßte oder ignorieren mußte. So waren die Kinderkünstler in einem indischen Zirkus mehrheitlich Mädchen, weil ihre Eltern nicht gewollt hatten, daß sie Prostituierte wurden; die nicht an einen Zirkus verkauften Jungen wurden schlimmstenfalls Bettler. (Oder sie verhungerten.) Aber das war nicht die Geschichte, derentwegen man Patrick Wallingford nach Indien geschickt hatte. Eine Trapezkünstlerin, eine erwachsene Frau, war aus fünfundzwanzig Meter Höhe abgestürzt und in den Armen ihres Mannes gelandet, der dabei ums Leben gekommen war. Der indische Staat hatte eingegriffen - mit dem Ergebnis, daß jeder Zirkus in Indien gegen die Vorschrift protestierte, daß die Akrobaten ab sofort mit Netz arbeiten mußten. Selbst die frisch verwitwete Trapezkünstlerin, die Frau, die abgestürzt war, schloß sich dem Protest an. Wallingford hatte sie im Krankenhaus interviewt, wo sie wegen einer gebrochenen Hüfte und eines unklaren Schadens an der Milz behandelt wurde; sie sagte ihm, das Fliegen werde erst ohne Netz zu etwas Besonderem. Gewiß trauere sie um ihren verstorbenen Ehemann, aber er sei ebenfalls Trapezkünstler gewesen - auch er sei schon abgestürzt und habe seinen Sturz überlebt. Möglicherweise aber, deutete seine Witwe an, sei er bei jenem ersten Patzer in Wirklichkeit gar nicht davongekommen; durchaus denkbar, daß ihr Sturz auf ihn den eigentlichen Abschluß des früheren Vorfalls bilde.
    Das war nun wirklich ein interessanter Gesichtspunkt, fand Wallingford, doch sein Nachrichtenredakteur, den jedermann von Herzen verabscheute, war von dem Interview enttäuscht. Und sämtliche Leute im Nachrichtenstudio in New York fanden, daß die verwitwete Trapezkünstlerin »zu ruhig« gewirkt habe; sie hatten ihre Katastrophenopfer lieber hysterisch.
    Außerdem hatte die genesende Akrobatin gesagt, ihr verstorbener Mann befinde sich nun »in den Armen der Göttin, an die er glaubte« - ein verführerischer Satz. Sie meinte damit, daß ihr Mann an Durga, die Göttin der Zerstörung, geglaubt hatte. Die meisten Trapezkünstler glaubten an Durga - die Göttin wird gemeinhin mit zehn Armen dargestellt. Die Witwe erklärte: »Durgas Arme sollen einen auffangen und festhalten, falls man je abstürzt.«
    Auch das war ein interessanter Gesichtspunkt für Wallingford, nicht aber für die Leute im Nachrichtenstudio in New York; sie sagten, sie hätten »von Religion die Schnauze voll«. Patricks Nachrichtenredakteur teilte ihm mit, sie hätten in letzter Zeit zu viele Stories mit religiösem Hintergrund gesendet. Dicktuer, dachte Wallingford. Es half nicht, daß der Nachrichtenredakteur Dick hieß.
    Er hatte Patrick zum Great Ganesh Circus zurückgeschickt, um noch »zusätzliches Lokalkolorit« einzufangen. Ferner hatte Dick behauptet, der Zirkusdirektor äußere sich offener als die Trapezkünstlerin. Patrick hatte protestiert. »Irgendwas über die Kinderartisten ergäbe eine bessere Geschichte«, hatte er gesagt. Aber offenbar hatte man in New York auch »von Kindern die Schnauze voll«.
    »Bring einfach mehr von dem Zirkusdirektor«, so Dicks Rat an Wallingford.
    Parallel zur Aufgeregtheit des Zirkusdirektors wurden auch die Löwen in ihrem Käfig - die Löwen gaben den Hintergrund für das letzte Interview ab - unruhig und laut. In der Terminologie des Fernsehens war das Stück, das Wallingford aus Indien schickte, der »Knaller«, der die Sendung beenden sollte. Die Geschichte wäre ein noch besserer Knaller, wenn die Löwen laut genug brüllten.
    Es war Fleischtag, und die Moslems, die das Fleisch brachten, waren aufgehalten worden. Der Übertragungswagen und die Film- und Tonapparatur - wie auch der Kameramann und die Tontechnikerin - hatten sie eingeschüchtert. Die moslemischen Fleischwallahs waren angesichts der vielen ungewohnten Technologie wie angewurzelt stehengeblieben. Hauptsächlich aber war es der Anblick der Tontechnikerin, der sie hatte erstarren lassen.
    Eine hochgewachsene Blondine in engen Bluejeans, trug sie Kopfhörer und einen Werkzeuggürtel mit einem Sortiment von Accessoires, das den Fleischwallahs als ausgesprochen maskulin erscheinen mußte: eine Kombizange oder Drahtschere, ein

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