Die Voegel der Finsternis
„Menschen mit den Augen eines Ebrowen habe ich immer gemieden."
„Mit den Augen eines Ebrowen?" „Cabis weihte mich in ein Geheimnis der Traumwen ein. Welche Augenfarbe ein Traumwen von Geburt aus auch haben mag, gerät er in den Bann des Bösen, bekommen seine Augen die Farbe von Stahl. Es heißt, man spüre die Macht des Schattenkönigs, dem er dient, wenn man ihn ansieht. Und während er dir in die Augen blickt, kann er deine Gedanken lesen und deine Seele beherrschen." Lila sah die Angst auf Maeves Gesicht. Sie wollte sie von ihr nehmen, aber jetzt war nicht die Zeit für tröstende Worte. Es gab nur eins, was ihrer Tochter helfen konnte. „Du hast Lord Morlen getroffen. Du weißt, was über ihn gesprochen wird, Maeve. Er ist ein Ebrowen. Du musst dich schützen." „Aber wie?", flüsterte Maeve entsetzt. „Cabis vertraute mir einen Familienschatz an. Den Traumwenstein." „Traumwenstein?"
„Es ist ein Edelstein der Traumwen. Er kann dich vor Morlen schützen." Lila machte eine Pause. „Es ist so lange her. Ich dachte, ich würde es nie vergessen, und doch ist die Erinnerung verschwommen ... aber ich weiß, dass der, der den Stein trägt, vor den Augen der Ebrowen sicher ist." Lila wollte Maeves Hand pressen, aber ihr Körper gehorchte nicht mehr ihrem Willen. „Ich wünschte, ich könnte dir mehr erzählen, mein Liebling, aber die Nebel des Vergessens hüllen mich ein. Und du musst gehen."
„Gehen? Wohin?" Maeves Stimme stockte, als sei sie ein kleines Kind.
Lila konnte ihre Tochter nicht mehr erkennen. Sie sah nur noch einen friedlichen, von schwebenden Sternen erleuchteten Himmel. Trotzdem zwang sie sich weiterzusprechen. „Der Traumwenstein verbirgt sich als einfacher, brauner Stein. Cabis bat mich, auf ihn aufzupassen. Er sagte mir, wenn Gefahr bestünde, dass er mir genommen würde, müsste ich ihn in Sicherheit bringen. Ich wusste, dass mir alles genommen würde, wenn meine Schwangerschaft entdeckt würde. In der letzten Woche meiner Freiheit schlich ich mich aus meines Vaters Haus. Im Norden von Lord Herings Anwesen verläuft ein schmaler Pfad", fuhr Lila fort. „Diesen gehst du entlang, bis du zu einem Fels kommst, der aussieht wie der Kopf eines Luchs. Hinter diesem Fels gehe zweihundert Schritte nach Norden bis zu einem jungen Eichbaum. Am Fuß der Eiche liegt ein kleiner Findling mit roter Maserung. Ich wickelte den Traumwenstein in grünen Satin und vergrub ihn unter diesem Findling."
Oberin Jill rieb sich den Schlaf aus den Augen. Nie hatte man einen Augenblick Ruhe - ihre Schützlinge waren endlich still und nun läutete diese Glocke. Sie eilte zur Hauptpforte des Waisenhauses. Dort stand eine junge Frau in einem Kleid, schöner als alle Kleider der Familie von Lord Indol. Dabei wusste jeder, dass Lord
Indol neben dem Kaiser die besten Näherinnen in ganz Slivona hatte. Woher sie wohl stammte? Mitten in der Nacht eine solche Eleganz und Schönheit. Irgendwie kam die Frau ihr bekannt vor, doch Oberin Jill wusste nicht, woher. Sie wollte den Glanz aus dem blauseidenen Kleid der Frau vertreiben, stattdessen aber verbeugte sie sich. „Womit kann ich dienen, Herrin?"
„Ich komme, um den Jungen abzuholen." „Welchen Jungen?"
„Devin. Den Lord Morlen erworben hat." „Tretet ein, Herrin, tretet ein." Also stimmte das Gerücht. Morlen hatte dafür gezahlt, dass er Devin, das neue Waisenkind, gezeichnet hatte. Oberin Jill bot der Dame einen verschlissenen Stuhl an. Diese sah ihn verächtlich an.
„Lord Morlen liebt es nicht zu warten."
„Verzeiht, Herrin. Ich eile." Geschäftig lief Oberin Jill
zu dem Saal mit den Schlafkojen.
Devins Gesicht war in Verbände gewickelt. Sie hatte ihm eine starke Dosis Baldrian verabreicht. Die Kleinen zu pflegen, die zum ersten Mal geschnitten wurden, war ihr die Mühe nicht wert. Einfacher war es, sie zum Schlafen zu bringen.
Aber jetzt ließ er sich nicht aufwecken, sosehr sie ihn auch schüttelte, er brummte nur und drehte sich auf die andere Seite.
Die Oberin hüllte ihn in seine Decke.
Die junge Frau nahm ihn auf die Arme - erstaunlich, wie stark sie war. Sie hielt ihn, als wollte sie vermeiden, dass ihr Kleid schmutzig würde. Oberin Jill öffnete ihr die Tür.
3
Wie immer begann Orlo lange vor Tagesanbruch mit seiner Arbeit und sorgte dafür, dass im Badehaus alles war, wie es sein sollte. Die Kessel mussten gefüllt und geheizt, die makellosen Handtücher frisch parfümiert, saubere Seidentücher über die Massageliegen gezogen,
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