Die Voegel der Finsternis
ließ sie in einem tiefen Seufzen wieder entweichen.
„Ich muss dir noch etwas sagen", fuhr Lila fort. „Dein Vater stammte aus einer Familie von Traumwen." „Traumwen? Aber ..."
„Ich weiß. Ich habe dir erzählt, Traumwen gäbe es nur in den alten Mythen. Das sagte ich, um dich zu schützen, und auch ihn, denn was du nicht wusstest, konntest du auch nicht Lord Indol verraten. Die Traumwen existieren wirklich, Maeve. Und bevor Siiviia von jenen
verdorbenen Männern beherrscht wurde, die sich heute Lords nennen, waren die Traumwen hoch geachtet Sie besitzen unergründliche Kräfte, obgleich nicht alle die Gabe geerbt haben." „Die Gabe?"
„Die Gabe durch die Welt der Seele zu reisen, durch Träume zu wandern. Ein erfahrener Traumwen kann in andere Welten eindringen, kann Sterbende begleiten und die Seele von Lebenden heilen. Doch ohne Übung kann sich die Gabe nicht entwickeln." Lila hörte ihre Stimme, als käme sie von weit her, als spräche sie aus der Tiefe des Wassers. Sie musste sich beeilen. „Als die Lords die Macht ergriffen, wurden die Traumwen zur Strecke gebracht. Fast alle wurden vernichtet, und nur wenigen gelang es, sich unter die Freigeborenen zu mischen. Nein, sage jetzt nichts." Lila erhob eine Hand, als Maeve den Mund öffnete, um zu sprechen. „Dein Vater war der Enkel des letzten, großen Traumwen, der einzige Sohn einer einzigen Tochter. Seine Mutter besaß die Gabe und war von ihrem Vater unterrichtet worden. Da sie aber unter den Freigeborenen lebte, verbarg sie ihre Gabe. Cabis sagte mir, wie sie hieß - Marina. Ich habe niemals herausgefunden, wo sie lebte, sonst wäre ich zu ihr geflüchtet ..." Lila machte eine Pause und griff nach Maeves Hand. „Dein Vater konnte nicht durch Träume wandern, doch Marina lehrte ihn das überlieferte Wissen der Traumwen. Er erzählte mir, die Gabe der Traumwen überspränge manchmal eine Generation und kehre dann mit besonderer Kraft wieder. Das bedeutet, Maeve, dass du vielleicht ein Traumwen bist."
Maeve hatte schon immer lebhafte Träume gehabt, die Lila jedoch nie hatte deuten können. Sie kam sich vor wie die Mutter eines großen Künstlers, die vom Zeichnen keine Ahnung hat, weder Farben noch Leinwand besitzt und niemanden, der sie unterrichtet. „Gabis wurde zur sliviitischen Marine gezwungen und zur großen Invasion von Glavenrell nach Osten geschickt. Er wusste nichts von meiner Schwangerschaft und kehrte nie zurück. Ich glaube, ich hätte gespürt, wenn er gestorben wäre. Vielleicht ist er noch am Leben und wohnt in Glavenrell oder einem anderen freien Königreich auf der anderen Seite des Ozeans. Du musst zur Bucht von Mantedi gehen, Maeve. Dort verlasse Sliviia über das Minwendameer. Vielleicht kannst du Cabis finden ..." „Aber — du musst mitkommen."
„Maeve, der Tod sei mir gnädig und möge mich erlösen. Er hat schon nach mir gerufen, aber ich habe ihn abgewiesen, weil ich dich ein letztes Mal sehen wollte. Nun, da ich dich gesehen habe, hält mich nichts mehr in dieser Welt." Mein geliebtes Kind. Nun muss Gott über dich wachen. „Nein, versuche nicht, mich umzustimmen. Höre, was ich dir zu sagen habe. Da Cabis zu den Freigeborenen gehörte, wurde er bei seiner Einberufung nur an den Handgelenken gezeichnet. Trotzdem fügte er sich auch selbst ein Zeichen bei. Falls er nicht zurückkäme, sollte ich ihm nachsegeln und nach einem Mann mit einem Stern auf der Brust suchen."
Lila lag still da und sah vor sich ein fernes Bild der reichen, schönen jungen Frau, die sie einst gewesen war, und des freien Mannes, der aus Liebe zu ihr seinen Körper gezeichnet hatte. Ein Mann mit brauner Haut und Augen von tiefstem Blau.
„Mit dem Geld kannst du dir eine Kutsche mieten und in dem Kleid wirst du als ein reiches Edelfräulein durchgehen. Doch bevor du wieder schläfst, musst du noch etwas tun ..."
„Bevor ich wieder schlafe?" Maeve drückte die Hand ihrer Mutter, ihre Finger bebten. „Nun, es gab auch Traumwen, die in den Bann des Bösen gerieten. Die Ebrowen. Diese können in die Träume derjenigen eindringen, denen sie in die Augen geblickt haben, und wenn es nur ein einziges Mal war. Wandern sie im Traum ihres Opfers, erfahren sie alles, was der Träumende weiß." Lila schauderte. „Ich bin froh, dass mein Vater nicht an die Existenz der Ebrowen glaubte, denn sonst hätte er einen beauftragen können, in meine Träume einzudringen, um Cabis Denons Namen herauszufinden."
Lila schöpfte Atem. Ich muss ihr alles sagen.
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