Die Wächter von Jerusalem
im Palast des Statthalters verschanzen und ihn über Wochen hinweg halten können, bis Verstärkung eingetroffen ist. Truppen, die uns in den Rücken fallen werden, weil sie anstatt in Özdemir in den Janitscharen die drohende Gefahr sehen. Özdemir wäre nämlich dumm, wenn er nicht versuchen würde, den Spieß umzudrehen und Nachrichten über einen Janitscharen-Aufstand an Suleiman zu schicken. Deshalb brauchen wir Beweise. Ohne Beweise werden wir vor Suleiman wie Lügner dastehen. Und nicht Özdemir, sondern wir werden dann als Verräter angeklagt und bestraft.«
Die beiden Männer schwiegen eine Weile.
»Allah, wie konnte es nur so weit kommen? Wieso hat Özdemir sich nur hinreißen lassen?« Omars Stimme klang so kläglich wie das Winseln eines Hundes. Anstatt gleich hier an Ort und Stelle Ibrahim das Schwert an die Kehle zu halten und ihn in den Kerker zu werfen, schien er wirklich jedes Wort zu glauben. Rashid hätte schreien mögen vor Wut. Am liebsten hätte er Omar gepackt und geschüttelt.
»Macht, mein Freund«, sagte Ibrahim. »Es ist die Macht, die ihn reizt, die ihn lockt. Uneingeschränkte Macht über alle Einwohner von Jerusalem. Die Macht, selbst Befehle zu erteilen , anstatt lediglich die Befehle von Suleiman befolgen zu müssen.«
»O weh, o weh, o weh!«
Rashid schloss die Augen und biss die Zähne zusammen. Die Wut auf Omar drohte ihn zu überwältigen. Wie konnte der Mann nur so dumm sein, auf Ibrahims Reden hereinzufallen ?
»In meinem Kopf reift bereits ein Plan, Omar. Aber noch ist es nicht so weit, dass ich ihn dir mitteilen könnte«, sagte Ibrahim . »Allerdings besteht auch noch kein Grund, die Dinge zu überstürzen. Sorgfalt und Besonnenheit sind in solchen Zeiten die besseren Ratgeber. Kehr also auf deinen Posten zurück. Wir treffen uns morgen Abend wieder hier. Und halt bereits Ausschau nach Männern, die geeignet wären, uns in unserem Anliegen zu unterstützen.« Die beiden erhoben sich. »Und noch etwas. Zu niemandem ein Wort. Die Sache muss unter uns bleiben, bis der Plan reif ist.«
Ibrahim und Omar verabschiedeten sich voneinander, und ihre Schritte entfernten sich in unterschiedliche Richtungen. Rashid blieb regungslos in seinem Versteck liegen. Anfangs hatte er sich dazu zwingen müssen, sich nicht zu bewegen. Jetzt war er wie gelähmt vor Entsetzen und Abscheu. Hatte er das alles wirklich gehört, oder hatte er nur geträumt? Wollten Omar und Ibrahim wirklich den Statthalter stürzen und die Regierung der Stadt an sich reißen? Das war nichts anderes als Verrat. Und das wollte Omar akzeptieren? Ausgerechnet jener Mann, den er wegen seines Gerechtigkeitssinns und seiner Loyalität dem Sultan und seinen Männern gegenüber schätzte und verehrte, seit er vor sechs Jahren sein Kochmeister geworden war?
Rashid kannte den Statthalter persönlich. Er hatte mehrere Wochen bei ihm Wache gehalten, als Özdemir die Janitscharen zum Schutz seiner Familie um Unterstützung seiner Leibgarde gebeten hatte. Er war ein freundlicher, großherziger und gebildeter Mann, Allah und Suleiman dem Prächtigen in bedingungsloser Treue ergeben. Er hatte eine wunderbare Familie. Konnte wirklich jemand allen Ernstes annehmen, dass Özdemir dies alles riskieren würde, nur um etwas mehr Macht zu haben? Er regierte doch bereits über die Stadt. Suleiman ließ ihn in seiner Güte gewähren. Was wollte er also noch mehr? Oder war es anders herum? Hatte Özdemir einen begründeten Verdacht gegen Ibrahim? Versuchte er deshalb die Befugnisse der Janitscharen einzuschränken, bevor es zu spät wäre und sie sich gegen ihn und den Sultan erheben würden? Er erinnerte sich an Cosimos Worte. Er hatte die Köchin als »Katze im Taubenschlag« bezeichnet. Der Glückliche, in seinem Haus gab es wenigstens nur eine, die Janitscharen hingegen hatten zwei.
Rashid begann zu zittern. Ihm war plötzlich so kalt, als wäre er unter einer Schneelawine begraben worden. Schneelawine ? Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals so viel Schnee gesehen zu haben. Aber in seinen Träumen sah er manchmal eine Unmenge von Schnee, die unter brüllendem Tosen einen Berghang hinabstürzte und alles mit sich riss – Bäume, Hütten, Tiere und Menschen. So musste es sich anfühlen , wenn man anschließend bis zum Hals im Schnee steckte. Es war kalt und feucht, seine Glieder waren taub, und er war unfähig, noch einen klaren Gedanken zu fassen. Er musste sofort in den Schlafsaal. In seinem Bett würde es ihm vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher