Mordsonate
1
»Worauf bist du denn am allermeisten … stolz?«
Das Mädchen versuchte vergeblich, ein weiteres Aufschluchzen zu unterdrücken, nachdem es zuvor von der Männerstimme barsch zurechtgewiesen worden war, endlich mit dem albernen Geheule aufzuhören, das nichts ändere. Weil durch Geheule nie etwas besser werde. Niemals! Dabei schnitt die schmale Kunststofffessel, mit der die Hände des Kindes hinter seinen Rücken gebunden waren, schmerzhaft in das Fleisch. Auch die Augenbinde saß viel zu fest. Es war sehr unangenehm, wie sich darunter die Tränen stauten. Zum Glück war das Klebeband weg, auch wenn es sehr wehgetan hatte, als es ihr im Haus vom Mund gerissen worden war. Und dieses entsetzliche Jucken, wo sich das Mädchen wegen der Fesselung doch nicht kratzen konnte! Denn seit es aus dem Lieferauto gezerrt und von der ihren Oberarm so hart umklammernden Hand des Unbekannten über die Schwelle und bis in diesen ebenerdig gelegenen Raum geschleift worden war, quälte das Kind dieser Juckreiz.
»Na, nun sag schon! Worauf bist du am allermeisten stolz?«
»Stolz …«
»Ja, stolz! – Ist es denn nicht dein …
Klavierspiel
?«
»Schon, ja …«
»Na eben! Und was brauchst du dazu am nötigsten?«
»Das … Klavier.«
»Das Klavier, das Klavier! Welchen Körperteil?! Den Körperteil meine ich!«
»Die … die … Hände. Meine Finger.«
»Na eben. Die Finger also …«
»Ja …«
»Und diese Finger … die sollen doch alle Menschen kennen, oder? Überall auf der Welt?«
»Ich weiß nicht …«
»Aber das möchtest du doch? Auf der ganzen Welt. Wo du doch eine so großartige Pianistin bist!«
»Ich weiß ni– schon, ja.«
»Na eben!«
»Um diese Zeit hat sie einfach daheim zu sein! Da braucht sich ein zehnjähriges Mädchen nicht mehr allein in der Stadt herumzutreiben … so etwas geht heutzutage einfach nicht mehr!«
»Natürlich zeigt sie es dir jetzt. Nach dem Zirkus, den du in der Früh wieder aufgeführt hast. – Wegen so einer Lappalie!«
»Ach so, eine Lappalie! Bei dir ist immer alles eine Lappalie … du sagst bei ihr doch zu allem Ja und Amen! Ganz gleich, was sie fordert, von der Mutti kriegt sie es schon. Aber auch sie muss endlich einmal haushalten lernen. Umgehen lernen mit ihrem Geld. Mit dem, was sie zur Verfügung hat. Sie ist alt genug dafür!«
»Sie ist doch viel sparsamer als ihre Freundinnen … von denen hat keine nur mehr ein Wertkartenhandy! Die bekommen doch alle sehr viel mehr als sie.«
»Sehr viel mehr als sie. – Wenn ich das schon höre! Mit irgendwelchen Vorstandsdirektoren, Ärzten oder Rechtsanwälten können wir freilich nicht mithalten. Das tut mir zwar sehr leid für das Fräulein Tochter, aber das ist nichtzu ändern. Ein Bilanzbuchhalter und eine Kassiererin! Solange hohe Wohnungsraten zurückzuzahlen sind und alles ständig teurer wird. Und die Gehaltserhöhungen liegen schon unter der Inflation. Sie muss mit dem auskommen, was wir haben. Und
so
wenig ist das nun auch wieder nicht. Wenn ich daran denke, was
ich
…«
»Das kannst du nicht vergleichen! Heute leben wir in einer anderen Zeit …«
»Ja, heute wird es den Kindern vorn und hinten hineingeschoben. Und sind sie deswegen vielleicht zufriedener? Oder gar glücklicher? Einer muss in einer Familie auch Grenzen setzen. Gerade wenn jemand wie du sowieso immer nachgibt! Aber wenn sie glaubt, dass sie das damit durchsetzen kann, dass sie nicht rechtzeitig heimkommt, dann hat sie sich aber sauber geschnitten, das verspreche ich ihr! Sauber geschnitten!«
»Weltberühmt, verstehst du, weltberühmt machen wir sie, deine superschnellen Finger. Weltberühmt!«
Als sie das hörte, war sich Birgit plötzlich unsicher: Führte der Mann vielleicht doch nichts Böses im Schilde? Aber warum hatte er sie dann ins Auto gezerrt, gefesselt, ihr die Augen verbunden, den Mund zugeklebt? Sie so gepackt, dass sie sein Gesicht nicht zu sehen bekommen hatte? Warum hatte er sie überhaupt hierher gebracht, wenn er doch nur ihre Finger weltberühmt machen wollte?! Wollte er dafür etwas Bestimmtes von ihr?
Des Öfteren waren sie in der Schule eindringlich davor gewarnt worden, sich von Fremden mit irgendwelchen Versprechungen irgendwohin locken zu lassen. Doch dieses Wissen hatte ihr gar nichts genützt!
Birgit war wie jedes Mal, wenn sie Klavierstunde hatte – seit Anja und sie in den Vorbereitungslehrgang des Mozarteumsaufgenommen worden waren, hatten sie jeweils an zwei verschiedenen Nachmittagen Unterricht –,
Weitere Kostenlose Bücher