Die Wächter von Jerusalem
Doch bereits nach kurzer Zeit bemerkte ich Veränderungen an Giacomo, die mir nicht gefielen . Er wurde unruhig, zappelig, nervös, unausgeglichen und aggressiv. Er nutzte das Elixier immer öfter, manchmal sogar mehrmals täglich, und er nutzte es, um sich Vorteile zu verschaffen .«
»Wie denn?«, fragte Anne und sah zu, wie der nur kurz angetippte Ball langsam in das Loch hineinrollte. »Was hat er getan ?«
»Ich will es Ihnen so erklären, Anne«, sagte Cosimo und kniff die Augen zusammen. »Stellen Sie sich vor, Sie haben heute die Wahl zwischen zwei Aktien. Sie entscheiden sich für die eine, kaufen sie und stellen ein paar Tage später fest, dass ebendiese Aktie gefallen ist, während die andere einen erheblichen Gewinn verbuchen konnte. Mit Hilfe des Elixiers könnten sie dann ein paar Tage in der Zeit zurückreisen und sich selbst erzählen, was mit beiden Aktien geschehen wird. Sie würden dann vermutlich ihre Absicht ändern und doch das andere Wertpapier kaufen.«
»Natürlich. Ich wäre ja sonst ziemlich dumm«, entgegnete Anne. »Und das hat Giacomo getan? Er hat seinen Reichtum durch solche Tricks vermehrt? Ich bitte um Vergebung, aber das ist … nun ja, vielleicht nicht gerade die feine englische Art, aber doch wohl keine Todsünde.«
»Das dachte ich auch. Anfangs«, sagte Cosimo, und seine Stimme klang düster. »Ich dachte es so lange, bis er damit begann , Menschen zu manipulieren. Und sie zu töten. Bis auf zwei Ausnahmen hat er nicht selbst Hand angelegt – jedenfalls nicht mit einem Dolch oder einer anderen Waffe. Nein, seine Mittel waren viel subtiler. So hat er seinen Stiefvater zum Beispiel getötet, indem er den Arzt der Familie unter einem Vorwand aus der Stadt gelockt hatte. So wurde Giulio de Pazzi von einer Biene in den Rachen gestochen, und der einzige Mann, der ihn vor dem Ersticken hätte retten können, war ausgerechnet an jenem Tag nicht in Florenz.«
»Und Sie haben davon gewusst?«, fragte Anne empört. »Sie haben davon gewusst und nichts getan, um ihn aufzuhalten?«
Cosimo holte tief Luft. »Glauben Sie mir, wenn es in meiner Macht gestanden hätte, hätte ich es getan. In all den Jahren , die seither verstrichen sind, hatte ich keinen sehnlicheren Wunsch, als die Zeit einfach zurückzudrehen und ihn daran zu hindern, das Elixier zu trinken. Mehr noch, am liebsten hätte ich uns beide davon abgehalten, überhaupt zu der Hexe zu gehen. Aber ich konnte nicht.«
»Moment mal, das verstehe ich jetzt nicht«, sagte Anne und strich sich das regenfeuchte Haar aus dem Gesicht. »Sie haben doch dieses Elixier. Weshalb sind Sie nicht schon längst einfach in der Zeit zurückgereist, wie Giacomo es auch getan hat? Es wäre Ihnen doch ein Leichtes gewesen, sich selbst eine Warnung vor der Hexe und diesem Manuskript zu schicken.«
Cosimo schüttelte den Kopf. »Ich habe es nicht gewagt, Anne, das Risiko war zu groß. Denn wer in die Vergangenheit zurückkehrt, um sich selbst zu begegnen, wird wahnsinnig. Außerdem ist es gefährlich, den Lauf der Zeit zu verändern. Es hätte schwerwiegende Folgen nicht nur für mich selbst und Giacomo, sondern auch für die Familie Medici, für die Stadt Florenz, vielleicht sogar für die ganze Menschheit. Folgen, die selbst ein klügerer, weiserer Mensch als ich wohl kaum überblicken könnte.«
Anne lachte, aber nicht, weil sie komisch fand, was Cosimo ihr erzählte. Sie lachte aus Zorn.
»So, Sie bringen also nicht den Mut auf, das Elixier der Ewigkeit selbst zu trinken, und flößen es deshalb arglosen, unwissenden Gästen ein, die sich nur auf eine schöne Party freuen. Sie selbst fürchten sich davor, wahnsinnig zu werden, aber um den Geisteszustand anderer, die Sie nach Gutdünken in die Vergangenheit schicken, machen Sie sich keine Sorgen. Oder ist Ihnen im Laufe der vielen Jahrhunderte einfach alles egal geworden?« Cosimo schüttelte mit einem traurigen, wehmütigen Lächeln den Kopf. »Dann haben Sie doch bitte die Güte, mir zu erklären, aus welchem Grund Sie mich durch die Zeit geschickt haben.«
»Können Sie es sich nicht denken?«, fragte Cosimo. »Dabei ist es doch ganz einfach. Ich bin Ihnen im Jahr 1477 in Florenz zum ersten Mal begegnet. Sie haben mir ihre Einladung zu meinem Kostümfest gezeigt. Ich musste Ihnen also das Elixier zu trinken geben, sobald ich Sie traf, andernfalls hätte ich den Lauf der Zeit manipuliert. Hätte ich Sie nicht ins Jahr 1477 geschickt , hätte sich vieles in der Geschichte geändert. Und
Weitere Kostenlose Bücher