Die Wächter von Jerusalem
recht behaglich eingerichtet hatte. Es machte fast den Eindruck, als würde er hier wohnen.
Pater Giacomo biss die Zähne zusammen, dass Stefano es knirschen hörte. Jeder Tropfen Blut war aus seinen Wangen gewichen. So aufgebracht hatte er seinen Lehrer nie zuvor gesehen .
»Diese Erben Beelzebubs verlangen Geld«, zischte er voller Entrüstung. »Sie verlangen wirklich Geld von uns, damit wir an der Stätte beten können, an der unser Herr leiden musste, an der Er begraben wurde und wieder auferstand.« Er zitterte vor Zorn. »Diese Höllenbrut! Diese elenden Söhne Satans! Doch das wird sich ändern. Ich schwöre bei Gott und allen seinen Engeln, dass sich das ändern wird. Schon bald wird sich das ändern. Schon bald.«
Sie gingen durch mehrere Kapellen und Seitenschiffe, treppauf und treppab. Stefano war froh, dass Pater Giacomo an seiner Seite war, andernfalls hätte er nie wieder aus diesem Labyrinth von Kapellen, Altären und Säulengängen hinausgefunden . In seinem ganzen Leben hatte er noch kein derart verwinkeltes und verwirrendes Gotteshaus betreten. Es schien nicht aus einer Kirche, sondern aus vielen aneinander gebauten Kapellen zu bestehen. Und wenn sich zur Zeit noch andere christliche Pilger außer ihnen hier aufhielten, so verbargen sie sich irgendwo im unübersichtlichen Gewirr der Nischen, Altäre und Kapellen.
Auf ihrem Weg begegnete ihnen keine Menschenseele. Und nachdem er sich von den Schrecken über den unverschämten Torwächter und die Weitläufigkeit des Gebäudes erholt hatte, begann Stefano sogar die Stille und Einsamkeit zu genießen. Es war eine Wohltat im Vergleich zu dem hektischen orientalischen Treiben vor den Pforten der Kirche, wo Tiere und Menschen in scheinbar heillosem Durcheinander umherliefen und mehr fremde Sprachen auf der Straße erklangen als nach dem Fall des Turmbaus zu Babel.
Und dann – endlich – hatten sie es erreicht. Vor ihnen, mitten zwischen all den anderen Kapellen und Altären, öffnete sich ein kleines bescheidenes Gebäude.
»Das Grab unseres Herrn«, flüsterte Pater Giacomo und zog sich die Kapuze über den Kopf. »Bedecke auch du dein Haupt, Stefano, um dem Herrn die Ehre zu erweisen, die ihm gebührt.«
Sie betraten den Vorraum des Gebäudes, in dessen Mitte ein Stein stand. Es handelte sich um einen schlichten grauen Block, der aussah, als hätte ihn ein Steinmetz hier vergessen.
»Dies ist der Stein, auf dem der Engel saß«, erklärte Pater Giacomo. »Der Engel aber sagte zu den Frauen: ›Fürchtet euch nicht! Ich weiß, ihr sucht Jesus, den Gekreuzigten. Er ist nicht hier, denn er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt her und seht euch die Stelle an, wo er lag.‹« Seine Stimme bebte, als er die Worte aus dem Evangelium zitierte, und seine Hand zitterte, als er sie ausstreckte, um den Stein zu berühren. Ja, er streichelte den rauen Fels, als ob es sich um das Haar eines liebgewonnenen Menschen handelte. Dann legte er Stefano eine Hand auf die Schulter. »Komm, mein Sohn. Wie die Frauen in der Heiligen Schrift, so lass auch uns die Stätte sehen , an welcher der Herr gelegen hat.«
Langsam, einen Schritt vor den anderen setzend, gingen sie auf die schmale Öffnung zu. Sie mussten sich bücken, um das Innere des Grabes zu betreten. Kerzen, dutzende, vielleicht sogar hunderte von Kerzen standen in den Nischen und auf dem Sims, der sich einmal rings um die kleine Grabkammer zog. Auf einem rechteckigen Steinblock, einem Sarkophag nicht unähnlich, lag ein großes weißes Tuch. Ob es das Grabtuch des Herrn war, das die Frauen hier noch liegen gesehen hatten ? Stefano erschauerte und sank auf die Knie. Er war in einem Kloster unter Mönchen und Priestern aufgewachsen. Seit er denken konnte, hatte er täglich die Messe besucht. Er hatte gebetet, gefastet und so oft die Worte aus der Bibel gehört, dass er mittlerweile viele Kapitel und Psalmen auswendig kannte. Und doch hatte er sich niemals zuvor in seinem ganzen Leben dem Herrn Jesus Christus näher gefühlt als hier, in diesem kleinen, bescheidenen, schmucklosen, von Kerzen erleuchteten Raum.
Wie lange er da kniete und betete, hätte Stefano nicht sagen können. Er erwachte wie aus einem Traum, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Überrascht sah er in Pater Giacomos Gesicht, der neben ihm kniete und sich nun ächzend und stöhnend erhob. Auch Stefanos Beine waren fast taub, und seine Knie wollten sich nur widerstrebend strecken wie die rostigen Scharniere einer alten Tür,
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