Die Wächter von Jerusalem
und verschwand schließlich im Haus. Einmal blitzte noch ein schwacher Lichtschein in einem der Fenster auf, dann war wieder alles still und dunkel. Eines stand für Rashid fest – wen auch immer er gesehen hatte, es war kein Dieb. Wenn der Eindringling jedoch zum Haus gehörte , weshalb schlich er sich dann so heimlich hinein? Oder empfingen noch mehr Bewohner des Hauses nächtliche Besucher , wie er selbst einer war?
Rashid wartete noch eine Weile, bis er wirklich sicher war, dass die dunkle Gestalt nicht doch wieder auftauchte, dann ließ er sich in den Innenhof hinab, huschte zu dem Feigenbaum und kletterte zu Annes Fenster hinauf. Glücklicherweise stand es auch diese Nacht offen. Wieder musste er an den jungen Tariq denken. Siebzehn war er gewesen. Der Statthalter hatte ihm die linke Hand abschlagen lassen, bevor er ihn für immer aus Jerusalem verbannt hatte. Was würde wohl mit ihm geschehen, wenn Annes Cousin oder dessen Sohn ihn jetzt sah? Rashid zögerte kurz, dann stemmte er sich den Fenstersims hoch und schwang sich ins Zimmer. Diese Frau war es wert, für sie zu sterben.
Anne schlief. Sie atmete tief und gleichmäßig. Das schwache Licht der Mondsichel fiel auf ihr Gesicht, das im Schlaf beinahe noch schöner war. Rashids Herz begann schneller zu schlagen. Unter allen in Allahs wunderbarer Welt existierenden Wundern war diese Frau wohl das größte. Vorsichtig setzte er sich auf die Bettkante und strich ihr behutsam eine Strähne aus dem Gesicht.
In diesem Moment wachte Anne auf. Erschrocken fuhr sie hoch. Dann erkannte sie ihn.
»Ra…«
Der Rest seines Namens ging in seinem Kuss unter. Der Geschmack ihrer Lippen betörte ihn, er raubte ihm förmlich den Verstand wie einem halb verhungerten Wanderer der Geschmack eines Tropfens Honig. Anne erwiderte seinen Kuss leidenschaftlich , innig. Ihre Hände fuhren durch sein Haar, während ihre Zungen miteinander tanzten. Sie zogen und zerrten einander die Kleider vom Leib, umarmten sich, drängten sich aneinander, als wollten sie für immer und ewig miteinander verschmelzen . Dann begannen sie zu schweben, immer höher und höher, bis sie den Himmel erreicht hatten und die geöffnete Pforte des Paradieses sehen konnten. Und dort schwanden Rashid die Sinne.
Mit dem Kopf auf seiner Schulter lauschte Anne Rashids gleichmäßigen , tiefen Atemzügen. Selbst im Schlaf sah er noch müde aus. Sanft streichelte sie sein Kinn. In den letzten Tagen hatte sie sich den Kopf darüber zerbrochen, weshalb er sein Versprechen nicht gehalten hatte und an dem Vormittag nicht gekommen war. Zwischen Angst und Wut hatte sie hin und her geschwankt . Mal hatte sie befürchtet, dass er sie belogen hatte, dann wieder war sie vor Angst um ihn fast verrückt geworden. Jetzt war sie erleichtert. Er liebte sie. Und dafür, dass er nicht gekommen war, gab es einen triftigen, aber nicht zu ernsten Grund. Das war ihr klar, obwohl sie noch kein Wort miteinander gesprochen hatten.
Zufrieden kuschelte sie sich an ihn. Das Licht der Morgensonne schimmerte auf seinem Haar und … Morgensonne?! Anne fuhr entsetzt auf. Tatsächlich, es war schon ziemlich hell. Aber warum hatte der Hahn nicht gekräht? Jeden Morgen vor Sonnenaufgang riss dieses Biest sie aus den schönsten Träumen. Nur heute nicht.
»Rashid!« Anne rüttelte ihn an der Schulter. »Rashid, wach auf!«
Rashid hob den Kopf, blinzelte sie aus verschlafenen Augen kurz an, lächelte und ließ sich dann wieder zurücksinken. Er war erneut eingeschlafen.
»Rashid! Du musst aufwachen! Die Sonne ist schon aufgegangen !«
»Was?« Rashid fuhr empor und war mit einem Schlag wach. Ohne lange zu zögern, schwang er sich aus dem Bett.
»Dieses Mistvieh von Hahn hat heute nicht gekräht«, schimpfte sie, während sie ihm half, seine im ganzen Raum verstreuten Kleidungsstücke aufzusammeln. »Ausgerechnet heute! Ich habe gar nicht darauf geachtet, wie spät es schon ist. Und jetzt …«
Hilflos brach sie ab und reichte ihm das Hemd.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Rashid und streifte sich in Windeseile das Hemd über den Kopf. »Noch habe ich etwas Zeit. Ich werde schon rechtzeitig in der Kaserne sein.«
»Und wenn nicht? Wenn …« Anne schluchzte auf. Sie konnte nicht weitersprechen. Die Angst davor, was alles mit Rashid passieren konnte, wenn er zu spät in die Kaserne kam, schnürte ihr fast die Kehle zu.
»Ich lass mir etwas einfallen«, erwiderte er und band sich den Gürtel. Dann trat er zu ihr und streichelte sanft ihre
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