Die Wächter von Jerusalem
Wange. »Mir fällt immer etwas ein. Mach dir keine Sorgen.«
Er gab ihr einen Kuss und schwang sich auf den Fenstersims.
»Aber Rashid!« Anne lief ihm nach und sah, wie er geschickt den Feigenbaum hinunterkletterte. »Woher weiß ich, dass du nicht …«
»Ich komme noch im Laufe des Tages zu euch. Versprochen .«
»Rashid!«
Verzweifelt und wütend auf sich selbst sah sie ihm nach, wie er quer durch den Garten zur schräg gegenüberliegenden Mauer hastete und dabei im Weg liegende Büsche und Beete einfach übersprang. Wie ein US-amerikanischer Marinesoldat in einem Trainingscamp für Elitetruppen zog er sich an der Mauer hoch und war auch schon im nächsten Augenblick auf der anderen Seite verschwunden. Anne biss sich auf die Lippe, ihr Herz schlug einen wahren Trommelwirbel. Hoffentlich kam er noch rechtzeitig in der Kaserne an, hoffentlich wurde er nicht erwischt. Hoffentlich!
Die Katze im Taubenschlag
Den ganzen Tag wanderte Anne ziellos durch Haus und Garten. Cosimo und Anselmo sprachen mit ihr, doch sie hörte kaum zu. Lustlos kaute sie beim Frühstück auf ihrem Brot herum, und beim Mittagessen schob sie Fleisch und Gemüse nur von einer Seite des Tellers zur anderen. Sie konnte sich auf nichts konzentrieren. Jedes Mal, wenn jemand an der Haustür klopfte oder Mahmud einen Besucher meldete, zuckte sie zusammen und erlebte qualvoll bange Minuten zwischen Angst und freudiger Erwartung. Vergeblich.
Cosimo erhielt einen Brief mit einer Einladung zu einem Festmahl bei einem Teppichhändler, Elisabeth kehrte mit Einkäufen heim, Esther mit frischem Wasser und wenig später mit der Wäsche, Fleisch und Mehl wurden geliefert , Cosimo kam von einem Spaziergang zurück, Anselmo empfing einen Barbier. Anne wurde fast verrückt. Bislang war ihr nicht aufgefallen, wie viele Leute im Laufe eines Tages in Cosimos Haus ein und aus gingen. Oder waren es nur heute so viele? Jeder Einwohner von Jerusalem schien sie an diesem Tag besuchen zu wollen. Es kamen Höflichkeitsbesucher , Botenjungen, Handwerker, alles und jeder – nur kein Rashid.
Beim Abendessen war Anne vor Angst und Sorgen so übel, dass sie den Geruch der Speisen kaum ertragen konnte. Sie machte sich schwere Vorwürfe. Warum hatte sie nicht besser aufgepasst? Sie war wach gewesen. Warum hatte sie nicht auf das Tageslicht geachtet und Rashid rechtzeitig geweckt? Wenn man ihn nun in den Kerker geworfen hatte?
»… Signorina Anne?«
Wie aus weiter Ferne, als stünde er auf einem Berggipfel auf der anderen Seite des Tales, drang Cosimos Stimme zu ihr durch.
»Verzeiht«, sagte sie und versuchte sich auf ihn zu konzentrieren , ihn wenigstens anzusehen. »Ich habe Euch nicht zugehört.«
»Stellt Euch vor, das ist mir nicht entgangen«, erwiderte Cosimo. »Ihr seid schon den ganzen Tag nicht ansprechbar. Und Euer Essen habt Ihr auch kaum angerührt. Bedrückt Euch etwas?«
Anne hätte am liebsten laut gelacht. Sollte sie Cosimo und Anselmo etwa erzählen, dass sie mit Rashid die Nacht verbracht hatte? Sie glaubte zwar nicht, dass sie von Cosimo oder Anselmo einen Vortrag über Anstand und Moral zu hören bekommen hätte, aber erstens war sie nicht so eng mit den beiden befreundet, um intime Geheimnisse mit ihnen auszutauschen , und zweitens wollte sie nicht noch andere in diese Sache mit hineinziehen. Vielleicht würde es auch sie in Gefahr bringen . Also schwieg sie.
Cosimo seufzte. »Ich respektiere Euer Schweigen«, sagte er und sah ihr fest in die Augen. »Und ich werde auch keinesfalls weiter in Euch dringen. Sollte ich Euch jedoch behilflich sein können, so bitte ich Euch, Vertrauen zu haben und Euch an mich zu wenden. Manche Lasten lassen sich leichter ertragen, wenn sie auf mehrere Schultern verteilt werden. Denken Sie daran.«
»Das weiß ich zu schätzen. Danke«, erwiderte Anne und versuchte zu lächeln.
Cosimo und Anselmo warfen einander einen vielsagenden Blick zu, dann begannen sie ein Gespräch über irgendein belangloses Thema. Annes Gedanken drifteten wieder ab. Rashid hatte versprochen, dass sie noch an diesem Tag von ihm hören werde. Dieses Versprechen hätte er ohne Zweifel gehalten , wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. Nun neigte sich der Tag bereits seinem Ende zu. Draußen auf den Straßen wurde es dunkel, und noch immer hatte sie keine Nachricht von ihm. Wo war er nur?
Cosimo und Anselmo hatten ihre Mahlzeit gerade beendet, als Mahmud eintrat.
»Herr, verzeiht die Störung. Ein weiterer Besucher begehrt
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