Die Wächter von Jerusalem
Einlass.«
Anne zuckte zusammen. Nahm denn die Folter an diesem Tag gar kein Ende?
»Ein Besucher? Zu dieser Zeit?« Cosimo runzelte verärgert die Stirn. »Wer ist es?«
»Nun, vielleicht ist es der, den wir schon so sehnsüchtig erwartet haben«, sagte Anselmo und warf Anne einen spöttischen Blick zu.
Sie konnte nicht verhindern, dass sie rot wurde. Sie wussten es. Cosimo und Anselmo wussten Bescheid.
»Herr, er sagt, er sei ein Janitschar. Aber er trägt keine Uniform . Deshalb habe ich ihn auch vor dem Tor warten lassen. Es gibt viele Spitzbuben und Diebe in dieser Stadt, Herr. Man kann ihnen nicht immer trauen. Mein ältester Bruder, Herr, ist ebenfalls Torwächter bei einem wohlhabenden Gewürzhändler oben in der Nähe der großen Moschee. Er hat es mal erlebt, dass …«
»Kennst du den Mann, der vor unserer Tür steht, Mahmud?«, unterbrach Cosimo unsanft die Rede seines Torwächters .
»Ich weiß nicht genau, Herr, irgendwie sehen diese Fremden doch alle gleich aus mit ihren hellen Haaren und …«
»Es ist also ein Fremder mit hellen Haaren.« Cosimo warf Anne einen kurzen Blick zu. »Welche Sprache hat er denn benutzt ?«
»Er sprach arabisch mit mir, Herr.« Mahmud klang entrüstet , so als wollte er sagen: Natürlich hat er erkannt, dass ich ein Moslem bin.
»Und hatte er einen Akzent?«
»Herr?« Mahmud runzelte die Stirn und neigte den Kopf zur Seite wie ein Schuljunge, der die ihm gestellte Rechenaufgabe nicht verstanden hatte. »Was meint Ihr damit?«
»Sprach er arabisch wie ein Fremder, wie jemand, der es nicht gewohnt ist, sich dieser Sprache zu bedienen?«
»Nein, Herr.« Mahmud schüttelte überzeugt den Kopf. »Er sprach fließend und ohne Fehler.«
»Versuch dich zu erinnern, Mahmud«, sagte Cosimo, und seinem Gesicht war nicht anzusehen, ob er gleich vor Wut explodieren oder in Lachen ausbrechen würde. »Vor ein paar Tagen war ein Janitschar hier, ein junger Mann. Er hatte helles Haar und blaue Augen. Könnte es sich um diesen Mann handeln ?«
Mahmud zog die Stirn in Falten. Er strengte sich an, das war ihm deutlich anzusehen. Schließlich nickte er.
»Ja, Herr, das könnte sein. Ja, ich glaube, dass er bereits vor ein paar Tagen hier war.«
Annes Herz machte einen Sprung – vorsichtig und zaghaft. Bloß nicht zu früh freuen, man konnte ja nicht wissen.
»Ich denke, du kannst ihn gefahrlos ins Haus lassen«, sagte
Cosimo.
»Aber Herr«, widersprach Mahmud zögernd, »wenn er nun doch …«
»Glaube mir, auch wenn wir beide, mein Sohn und ich, Kaufleute sind, so sind wir dennoch nicht wehrlos. Du kannst unseren Gast unbesorgt in das Empfangszimmer führen. Und sage Elisabeth, dass sie uns Tee und Gebäck oder Früchte bringen soll.« Unter Kopfschütteln und Gemurmel schlurfte Mahmud davon.
»Ich weiß nicht, wie lange ich noch die nötige Geduld aufbringen werde, diesen Mann zu ertragen«, sagte Cosimo und stieß die Luft aus. »Manchmal ist er wirklich so schwerfällig , dass ich versucht bin, selbst ans Tor zu gehen.« Dann wandte er sich mit einem Lächeln an Anne. »Signorina, verehrte Cousine , würdet Ihr uns die Ehre erweisen, uns zu begleiten ?«
Anne folgte Cosimo und versuchte über das spöttische Funkeln in Anselmos Augen hinwegzusehen.
Rashid stand vor dem geschlossenen Tor. Er kam sich vor wie ein räudiger Bettler, der um ein Almosen gebeten hatte. Warum kam dieser Mahmud nicht zurück? Er hatte ihm doch bereits zweimal in den vergangenen Tagen die Tür geöffnet. Musste er erst seinen Herrn suchen und um Erlaubnis bitten? Traute man ihm etwa nicht? Ungeduldig ging Rashid auf und ab. Yussuf, Jamal und Hassan waren in einem Gasthaus eingekehrt , um dort bei einer guten Mahlzeit, Musik und dem erfreulichen Anblick der Tänzerinnen ihren freien Abend zu verbringen . Doch wenn sie es sich nun anders überlegt hatten und stattdessen durch die Straßen der Stadt streiften? Wenn sie ihn hier sahen? Rashid wurde es heiß bei dem Gedanken an die Fragen, die ihm die Freunde dann stellen würden.
Nun komm schon, Alter, beeil dich! Am liebsten hätte er noch mal kräftig gegen die Tür gehämmert, aber er hatte den Eindruck, dass er damit nichts erreicht hätte. Es wäre ihm höchstens gelungen, sich lächerlich zu machen. Und da ihm nichts Besseres einfiel, um seine Ungeduld zu zügeln, lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Mauer. Zu dieser Stunde waren zum Glück nur wenig Menschen auf der Straße unterwegs . Trotzdem schien jeder Einzelne von ihnen ihn
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