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Die Wahlverwandtschaften

Die Wahlverwandtschaften

Titel: Die Wahlverwandtschaften Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johann Wolfgang von Goethe
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überraschen, ob er sie vorbereiten sollte!
    Endlich gewann die letztere Meinung Oberhand; er setzte sich hin und schrieb.
    Dies Blatt sollte sie empfangen.
    »Indem du diesen Brief liesest, Geliebteste, bin ich in deiner Nähe.
    Du mußt nicht erschrecken, dich nicht entsetzen; du hast von mir nichts zu befürchten.
    Ich werde mich nicht zu dir drängen.
    Du siehst mich nicht eher, als du es erlaubst.
    Bedenke vorher deine Lage, die meinige.
    Wie sehr danke ich dir, daß du keinen entscheidenden Schritt zu tun vorhast; aber bedeutend genug ist er.
    Tu ihn nicht!
    Hier, auf einer Art von Scheideweg, überlege nochmals: kannst du mein sein, willst du mein sein?
    O du erzeigst uns allen eine große Wohltat und mir eine überschwengliche.
    Laß mich dich wiedersehen, dich mit Freuden wiedersehen.
    Laß mich die schöne Frage mündlich tun und beantworte sie mir mit deinem schönen Selbst.
    An meine Brust, Ottilie!
    Hieher, wo du manchmal geruht hast und wo du immer hingehörst!« Indem er schrieb, ergriff ihn das Gefühl, sein Höchstersehntes nahe sich, es werde nun gleich gegenwärtig sein.
    Zu dieser Türe wird sie hereintreten, diesen Brief wird sie lesen, wirklich wird sie wie sonst vor mir dastehen, deren Erscheinung ich mir so oft herbeisehnte.
    Wird sie noch dieselbe sein?
    Hat sich ihre Gestalt, haben sich ihre Gesinnungen verändert?
    Er hielt die Feder noch in der Hand, er wollte schreiben, wie er dachte; aber der Wagen rollte in den Hof.
    Mit flüchtiger Feder setzte er noch hinzu:» ich höre dich kommen.
    Auf einen Augenblick leb wohl!« er faltete den Brief, überschrieb ihn; zum Siegeln war es zu spät.
    Er sprang in die Kammer, durch die er nachher auf den Gang zu gelangen wußte, und augenblicks fiel ihm ein, daß er die Uhr mit dem Petschaft noch auf dem Tisch gelassen.
    Sie sollte diese nicht zuerst sehen; er sprang zurück und holte sie glücklich weg.
    Vom Vorsaal her vernahm er schon die Wirtin, die auf das Zimmer losging, um es dem Gast anzuweisen.
    Er eilte gegen die Kammertür, aber sie war zugefahren.
    Den Schlüssel hatte er beim Hineinspringen heruntergeworfen, der lag inwendig; das Schloß war zugeschnappt, und er stund gebannt.
    Heftig drängte er an der Türe; sie gab nicht nach.
    O wie hätte er gewünscht, als ein Geist durch die Spalten zu schlüpfen!
    Vergebens!
    Er verbarg sein Gesicht an den Türpfosten.
    Ottilie trat herein, die Wirtin, als sie ihn erblickte, zurück.
    Auch Ottilien konnte er nicht einen Augenblick verborgen bleiben.
    Er wendete sich gegen sie, und so standen die Liebenden abermals auf die seltsamste Weise gegeneinander.
    Sie sah ihn ruhig und ernsthaft an, ohne vor- oder zurückzugehen, und als er eine Bewegung machte, sich ihr zu nähern, trat sie einige Schritte zurück bis an den Tisch.
    Auch er trat wieder zurück.
    »Ottilie«, rief er aus, »laß mich das furchtbare Schweigen brechen!
    Sind wir nur Schatten, die einander gegenüberstehen?
    Aber vor allen Dingen höre!
    Es ist ein Zufall, daß du mich gleich jetzt hier findest.
    Neben dir liegt ein Brief, der dich vorbereiten sollte.
    Lies, ich bitte dich, lies ihn!
    Und dann beschließe, was du kannst«.
    Sie blickte herab auf den Brief, und nach einigem Besinnen nahm sie ihn auf, erbrach und las ihn.
    Ohne die Miene zu verändern, hatte sie ihn gelegen, und so legte sie ihn leise weg; dann drückte sie die flachen, in die Höhe gehobenen Hände zusammen, führte sie gegen die Brust, indem sie sich nur wenig vorwärts neigte, und sah den dringend Fordernden mit einem solchen Blick an, daß er von allem abzustehen genötigt war, was er verlangen oder wünschen mochte.
    Diese Bewegung zerriß ihm das Herz.
    Er konnte den Anblick, er konnte die Stellung Ottiliens nicht ertragen.
    Es sah völlig aus, als würde sie in die Kniee sinken, wenn er beharrte.
    Er eilte verzweifelnd zur Tür hinaus und schickte die Wirtin zu der Einsamen.
    Er ging auf dem Vorsaal auf und ab.
    Es war Nacht geworden, im Zimmer blieb es stille.
    Endlich trat die Wirtin heraus und zog den Schlüssel ab.
    Die gute Frau war gerührt, war verlegen, sie wußte nicht, was sie tun sollte.
    Zuletzt im Weggehen bot sie den Schlüssel Eduarden an, der ihn ablehnte.
    Sie ließ das Licht stehen und entfernte sich.
    Eduard im tiefsten Kummer warf sich auf Ottiliens Schwelle, die er mit seinen Tränen benetzte.
    Jammervoller brachten kaum jemals in solcher Nähe Liebende eine Nacht zu.
    Der Tag brach an; der Kutscher trieb, die Wirtin schloß auf und

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