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Die Wahlverwandtschaften

Die Wahlverwandtschaften

Titel: Die Wahlverwandtschaften Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johann Wolfgang von Goethe
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Gutmütigkeit!
    Verzeihen Sie mir, daß ich so rede; aber ich habe unglaublich mit jenem armen Mädchen gelitten, als es Luciane aus den verborgenen Zimmern des Hauses hervorzog, sich freundlich mit ihm beschäftigte, es in der besten Absicht zu Spiel und Tanz nötigen wollte, als das arme Kind bange und immer bänger zuletzt floh und in Ohnmacht sank, ich es in meine Arme faßte, die Gesellschaft erschreckt, aufgeregt und jeder erst recht neugierig auf die Unglückselige ward, da dachte ich nicht, daß mir ein gleiches Schicksal bevorstehe; aber mein Mitgefühl, so wahr und lebhaft, ist noch lebendig.
    Jetzt kann ich mein Mitleiden gegen mich selbst wenden und mich hüten, daß ich nicht zu ähnlichen Auftritt Anlaß gebe«.
    »Du wirst aber, liebes Kind«, versetzte Charlotte, »dem Anblick der Menschen dich nirgends entziehen können.
    Klöster haben wir nicht, in denen sonst eine Freistatt für solche Gefühle zu finden war«.
    »Die Einsamkeit macht nicht die Freistatt, liebe Tante«, versetzte Ottilie.
    »Die schätzenswerteste Freistatt ist da zu suchen, wo wir tätig sein können.
    Alle Büßungen, alle Entbehrungen sind keineswegs geeignet, uns einem ahnungsvollen Geschick zu entziehen, wenn es uns zu verfolgen entschieden ist.
    Nur wenn ich im müßigen Zustande der Welt zur Schau dienen soll, dann ist sie mir widerwärtig und ängstigt mich.
    Findet man mich aber freudig bei der Arbeit, unermüdet in meiner Pflicht, dann kann ich die Blicke eines jeden aushalten, weil ich die göttlichen nicht zu scheuen brauche«.
    »Ich müßte mich sehr irren«, versetzte Charlotte, »wenn deine Neigung dich nicht zur Pension zurückzöge«.
    »Ja«, versetzte Ottilie, »ich leugne es nicht; ich denke es mir als eine glückliche Bestimmung, andre auf dem gewöhnlichen Wege zu erziehen, wenn wir auf dem sonderbarsten erzogen worden.
    Und sehen wir nicht in der Geschichte, daß Menschen, die wegen großer sittlicher Unfälle sich in die Wüsten zurückzogen, dort keineswegs, wie sie hofften, verborgen und gedeckt waren?
    Sie wurden zurückgerufen in die Welt, um die Verirrten auf den rechten Weg zu führen; und wer konnte es besser als die in den Irrgängen des Lebens schon Eingeweihten!
    Sie wurden berufen, den Unglücklichen beizustehen; und wer vermochte das eher als sie, denen kein irdisches Unheil mehr begegnen konnte!« »Du wählst eine sonderbare Bestimmung«, versetzte Charlotte. »Ich will dir nicht widerstreben; es mag sein, wenn auch nur, wie ich hoffe, auf kurze Zeit«.
    »Wie sehr danke ich Ihnen«, sagte Ottilie, »daß Sie mir diesen Versuch, diese Erfahrung gönnen wollen.
    Schmeichle ich mir nicht zu sehr, so soll es mir glücken.
    An jenem Orte will ich mich erinnern, wie manche Prüfungen ich ausgestanden und wie klein, wie nichtig sie waren gegen die, die ich nachher erfahren mußte.
    Wie heiter werde ich die Verlegenheiten der jungen Ausschößlinge betrachten, bei ihren kindlichen Schmerzen lächeln und sie mit leiser Hand aus allen kleinen Verirrungen herausführen.
    Der Glückliche ist nicht geeignet, Glücklichen vorzustehen; es liegt in der menschlichen Natur, immer mehr von sich und von andern zu fordern, je mehr man empfangen hat.
    Nur der Unglückliche, der sich erholt, weiß für sich und andere das Gefühl zu nähren, daß auch ein mäßiges Gute mit Entzücken genossen werden soll«.
    »Laß mich gegen deinen Vorsatz«, sagte Charlotte zuletzt nach einigem Bedenken, »noch einen Einwurf anführen, der mir der wichtigste scheint.
    Es ist nicht von dir, es ist von einem Dritten die Rede.
    Die Gesinnungen des guten, vernünftigen, frommen Gehülfen sind dir bekannt; auf dem Wege, den du gehst, wirst du ihm jeden Tag werter und unentbehrlicher sein.
    Da er schon jetzt seinem Gefühl nach nicht gern ohne dich leben mag, so wird er auch künftig, wenn er einmal deine Mitwirkung gewohnt ist, ohne dich sein Geschäft nicht mehr verwalten können.
    Du wirst ihm anfangs darin beistehen, um es ihm hernach zu verleiden«.
    »Das Geschick ist nicht sanft mit mir verfahren«, versetzte Ottilie, »und wer mich liebt, hat vielleicht nicht viel Besseres zu erwarten.
    So gut und verständig als der Freund ist, ebenso, hoffe ich, wird sich in ihm auch die Empfindung eines reinen Verhältnisses zu mir entwickeln; er wird in mir eine geweihte Person erblicken, die nur dadurch ein ungeheures Übel für sich und andre vielleicht aufzuwiegen vermag, wenn sie sich dem Heiligen widmet, das, uns unsichtbar umgebend,

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