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Die Wahlverwandtschaften

Die Wahlverwandtschaften

Titel: Die Wahlverwandtschaften Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johann Wolfgang von Goethe
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Charlotte war der Meinung, man könne nicht geschwind genug mit dem Charakter der Menschen bekannt werden, mit denen man zu leben hat, um zu wissen, was sich von ihnen erwarten, was sich an ihnen bilden läßt, oder was man ihnen ein für allemal zugestehen und verzeihen muß.
    Sie fand zwar bei dieser Untersuchung nichts Neues, aber manches Bekannte ward ihr bedeutender und auffallender.
    So konnte ihr zum Beispiel Ottiliens Mäßigkeit im Essen und Trinken wirklich Sorge machen.
    Das Nächste, was die Frauen beschäftigte, war der Anzug.
    Charlotte verlangte von Ottilien, sie solle in Kleidern reicher und mehr ausgesucht erscheinen.
    Sogleich schnitt das gute, tätige Kind die ihr früher geschenkten Stoffe selbst zu und wußte sie sich mit geringer Beihülfe anderer schnell und höchst zierlich anzupassen.
    Die neuen, modischen Gewänder erhöhten ihre Gestalt; denn indem das Angenehme einer Person sich auch über ihre Hülle verbreitet, so glaubt man sie immer wieder von neuem und anmutiger zu sehen, wenn sie ihre Eigenschaften einer neuen Umgebung mitteilt.
    Dadurch ward sie den Männern, wie von Anfang so immer mehr, daß wir es nur mit dem rechten Namen nennen, ein wahrer Augentrost.
    Denn wenn der Smaragd durch seine herrliche Farbe dem Gesicht wohltut, ja sogar einige Heilkraft an diesem edlen Sinn ausübt, so wirkt die menschliche Schönheit noch mit weit größerer Gewalt auf den äußern und innern Sinn.
    Wer sie erblickt, den kann nichts Übles anwehen; er fühlt sich mit sich selbst und mit der Welt in Übereinstimmung.
    Auf manche Weise hatte daher die Gesellschaft durch Ottiliens Ankunft gewonnen.
    Die beiden Freunde hielten regelmäßiger die Stunden, ja die Minuten der Zusammenkünfte.
    Sie ließen weder zum Essen, noch zum Tee, noch zum Spaziergang länger als billig auf sich warten.
    Sie eilten, besonders abends, nicht so bald von Tische weg. Charlotte bemerkte das wohl und ließ beide nicht unbeobachtet. Sie suchte zu erforschen, ob einer vor dem andern hiezu den Anlaß gäbe; aber sie konnte keinen Unterschied bemerken.
    Beide zeigten sich überhaupt geselliger.
    Bei ihren Unterhaltungen schienen sie zu bedenken, was Ottiliens Teilnahme zu erregen geeignet sein möchte, was ihren Einsichten, ihren übrigen Kenntnissen gemäß wäre.
    Beim Lesen und Erzählen hielten sie inne, bis sie wiederkam. Sie wurden milder und im ganzen mitteilender.
    In Erwiderung dagegen wuchs die Dienstbeflissenheit Ottiliens mit jedem Tage.
    Je mehr sie das Haus, die Menschen, die Verhältnisse kennenlernte, desto lebhafter griff sie ein, desto schneller verstand sie jeden Blicke, jede Bewegung, ein halbes Wort, einen Laut.
    Ihre ruhige Aufmerksamkeit blieb sich immer gleich, so wie ihre gelassene Regsamkeit.
    Und so war ihr Sitzen, Aufstehen, Gehen, Kommen, Holen, Bringen, Wiederniedersitzen ohne einen Schein von Unruhe, ein ewiger Wechsel, eine ewige angenehme Bewegung.
    Dazu kam, daß man sie nicht gehen hörte; so leise trat sie auf.
    Diese anständige Dienstfertigkeit Ottiliens machte Charlotten viele Freude.
    Ein einziges, was ihr nicht ganz angemessen vorkam, verbarg sie Ottilien nicht.
    »Es gehört«, sagte sie eines Tages zu ihr, »unter die lobenswürdigen Aufmerksamkeiten, daß wir uns schnell bücken, wenn jemand etwas aus der Hand fallen läßt, und es eilig aufzuheben suchen.
    Wir bekennen uns dadurch ihm gleichsam dienstpflichtig; nur ist in der größern Welt dabei zu bedenken, wenn man eine solche Ergebenheit bezeigt.
    Gegen Frauen will ich dir darüber keine Gesetze vorschreiben. Du bist jung.
    Gegen Höhere und Ältere ist es Schuldigkeit, gegen deinesgleichen Artigkeit, gegen Jüngere und Niedere zeigt man sich dadurch menschlich und gut; nur will es einem Frauenzimmer nicht wohl geziemen, sich Männern auf diese Weise ergeben und dienstbar zu bezeigen«.
    »Ich will es mir abzugewöhnen suchen«, versetzte Ottilie.
    »Indessen werden Sie mir diese Unschicklichkeit vergeben, wenn ich Ihnen sage, wie ich dazu gekommen bin.
    Man hat uns die Geschichte gelehrt; ich habe nicht soviel daraus behalten, als ich wohl gesollt hätte; denn ich wußte nicht, wozu ichs brauchen würde.
    Nur einzelne Begebenheiten sind mir sehr eindrücklich gewesen, so folgende: als Karl der Erste von England von seinen sogenannten Richtern stand, fiel der goldne Knopf des Stöckchens, das er trug, herunter.
    Gewohnt, daß bei solchen Gelegenheiten sich alles für ihn bemühte, schien er sich umzusehen und zu erwarten, daß

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