Die Wahlverwandtschaften
gewiß den Preis davongetragen; ihre Umrisse waren rein und die Ausführung bei vieler Sorgfalt geistreich.
Leider hatte sie etwas zu Großes unternommen und war nicht fertig geworden.
Als die Schülerinnen abgetreten waren, die Prüfenden zusammen Rat hielten und uns Lehrern wenigstens einiges Wort dabei gönnten, merkte ich wohl bald, daß von Ottilien gar nicht und, wenn es geschah, wo nicht mit Mißbilligung, doch mit Gleichgültigkeit gesprochen wurde.
Ich hoffte, durch eine offne Darstellung ihrer Art zu sein einige Gunst zu erregen, und wagte mich daran mit doppeltem Eifer, einmal, weil ich nach meiner Überzeugung sprechen konnte, und sodann, weil ich mich in jüngeren Jahren in eben demselben traurigen Fall befunden hatte.
Man hörte mich mit Aufmerksamkeit an; doch als ich geendigt hatte, sagte mir der vorsitzende Prüfende zwar freundlich, aber lakonisch: ›Fähigkeiten werden vorausgesetzt, sie sollen zu Fertigkeiten werden.
Dies ist der Zweck aller Erziehung, dies ist die laute, deutliche Absicht der Eltern und Vorgesetzten, die stille, nur halb bewußte der Kinder selbst.
Dies ist auch der Gegenstand der Prüfung, wobei zugleich Lehrer und Schüler beurteilt werden.
Aus dem, was wir von Ihnen vernehmen, schöpfen wir gute Hoffnung von dem Kinde, und Sie sind allerdings lobenswürdig, indem Sie auf die Fähigkeiten der Schülerinnen genau achtgeben.
Verwandeln Sie solche übers Jahr in Fertigkeiten, so wird es Ihnen und Ihrer begünstigten Schülerin nicht an Beifall mangeln.‹
In das, was hierauf folgte, hatte ich mich schon ergeben, aber ein noch Übleres nicht befürchtet, das sich bald darauf zutrug.
Unsere gute Vorsteherin, die wie ein guter Hirte auch nicht eins von ihren Schäfchen verloren oder, wie es hier der Fall war, ungeschmückt sehen möchte, konnte, nachdem die Herren sich entfernt hatten, ihren Unwillen nicht bergen und sagte zu Ottilien, die ganz ruhig, indem die andern sich über ihre Preise freuten, am Fenster stand: ›aber sagen Sie mir, um 's Himmels willen!
Wie kann man so dumm aussehen, wenn man es nicht ist?‹
Ottilie versetzte ganz gelassen: ›verzeihen Sie, liebe Mutter, ich habe gerade heute wieder mein Kopfweh, und ziemlich stark‹.
– ›Das kann niemand wissen!‹ versetzte die sonst so teilnehmende Frau und kehrte sich verdrießlich um.
Nun es ist wahr: niemand kann es wissen; denn Ottilie verändert das Gesicht nicht, und ich habe auch nicht gesehen, daß sie einmal die Hand nach dem Schlafe zu bewegt hätte.
Das war noch nicht alles.
Ihre Fräulein Tochter, gnädige Frau, sonst lebhaft und freimütig, war im Gefühl ihres heutigen Triumphs ausgelassen und übermütig.
Sie sprang mit ihren Preisen und Zeugnissen in den Zimmern herum und schüttelte sie auch Ottilien vor dem Gesicht.
»Du bist heute schlecht gefahren!« rief sie aus.
Ganz gelassen antwortete Ottilie: »es ist noch nicht der letzte Prüfungstag«.
–»Und doch wirst du immer die Letzte bleiben!« rief das Fräulein und sprang hinweg.
Ottilie schien gelassen für jeden andern, nur nicht für mich. Eine innere, unangenehme, lebhafte Bewegung, der sie widersteht, zeigt sich durch eine ungleiche Farbe des Gesichts.
Die linke Wange wird auf einen Augenblick rot, indem die rechte bleich wird.
Ich sah dies Zeichen, und meine Teilnehmung konnte sich nicht zurückhalten.
Ich führte unsre Vorsteherin beiseite, sprach ernsthaft mit ihr über die Sache.
Die treffliche Frau erkannte ihren Fehler.
Wir berieten, wir besprachen uns lange, und ohne deshalb weitläufiger zu sein, will ich Euer Gnaden unsern Beschluß und unsre Bitte vortragen: Ottilien auf einige Zeit zu sich zu nehmen.
Die Gründe werden Sie sich selbst am besten entfalten.
Bestimmen Sie sich hiezu, so sage ich mehr über die Behandlung des guten Kindes.
Verläßt uns dann Ihre Fräulein Tochter, wie zu vermuten steht, so sehen wir Ottilien mit Freuden zurückkehren.
Noch eins, das ich vielleicht in der Folge vergessen könnte: ich habe nie gesehen, daß Ottilie etwas verlangt oder gar um etwas dringend gebeten hätte.
Dagegen kommen Fälle, wiewohl selten, daß sie etwas abzulehnen sucht, was man von ihr fordert.
Sie tut das mit einer Gebärde, die für den, der den Sinn davon gefaßt hat, unwiderstehlich ist.
Sie drückt die flachen Hände, die sie in die Höhe hebt, zusammen und führt sie gegen die Brust, indem sie sich nur wenig vorwärts neigt und den dringend Fordernden mit einem solchen Blick ansieht, daß
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