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Die Wahlverwandtschaften

Die Wahlverwandtschaften

Titel: Die Wahlverwandtschaften Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johann Wolfgang von Goethe
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Gebilde, doch wirkte hauptsächlich das Kind auf sie.
    Ihre Augen strömten von Tränen, und sie stellte sich auf das lebhafteste vor, daß sie ein ähnliches liebes Geschöpf bald auf ihrem Schoße zu hoffen habe.
    Man hatte den Vorhang niedergelassen, teils um den Vorstellenden einige Erleichterung zu geben, teils eine Veränderung in dem Dargestellten anzubringen.
    Der Künstler hatte sich vorgenommen, das erste Nacht- und Niedrigkeitsbild in ein Tag- und Glorienbild zu verwandeln, und deswegen von allen Seiten eine unmäßige Erleuchtung vorbereitet, die in der Zwischenzeit angezündet wurde.
    Ottilien war in ihrer halb theatralischen Lage bisher die größte Beruhigung gewesen, daß außer Charlotten und wenigen Hausgenossen niemand dieser frommen Kunstmummerei zugesehen.
    Sie wurde daher einigermaßen betroffen, als sie in der Zwischenzeit vernahm, es sei ein Fremder angekommen, im Saale von Charlotten freundlich begrüßt.
    Wer es war, konnte man ihr nicht sagen.
    Sie ergab sich darein, um keine Störung zu verursachen.
    Lichter und Lampen brannten, und eine ganz unendliche Hellung umgab sie.
    Der Vorhang ging auf, für die Zuschauenden ein überraschender Anblick: das ganze Bild war alles Licht, und statt des völlig aufgehobenen Schattens blieben nur die Farben übrig, die bei der klugen Auswahl eine liebliche Mäßigung hervorbrachten.
    Unter ihren langen Augenwimmpern hervorblickend, bemerkte Ottilie eine Mannsperson neben Charlotten sitzend.
    Sie erkannte ihn nicht, aber sie glaubte die Stimme des Gehülfen aus der Pension zu hören.
    Eine wunderbare Empfindung ergriff sie.
    Wie vieles war begegnet, seitdem sie die Stimme dieses treuen Lehrers nicht vernommen!
    Wie im zackigen Blitz fuhr die Reihe ihrer Freuden und Leiden schnell vor ihrer Seele vorbei und regte die Frage auf: ›darfst du ihm alles bekennen und gestehen?
    Und wie wenig wert bist du, unter dieser heiligen Gestalt vor ihm zu erscheinen, und wie seltsam muß es ihm vorkommen, dich, die er nur natürlich gesehen, als Maske zu erblicken?
    Mit einer Schnelligkeit, die keinesgleichen hat, wirkten Gefühl und Betrachtung in ihr gegeneinander.
    Ihr Herz war befangen, ihre Augen füllten sich mit Tränen, indem sie sich zwang, immerfort als ein starres Bild zu erscheinen; und wie froh war sie, als der Knabe sich zu regen anfing und der Künstler sich genötiget sah, das Zeichen zu geben, daß der Vorhang wieder fallen sollte!
    Hatte das peinliche Gefühl, einem werten Freunde nicht entgegeneilen zu können, sich schon die letzten Augenblicke zu den übrigen Empfindungen Ottiliens gesellt, so war sie jetzt in noch größerer Verlegenheit.
    Sollte sie in diesem fremden Anzug und Schmuck ihm entgegengehn?
    Sollte sie sich umkleiden?
    Sie wählte nicht, sie tat das letzte und suchte sich in der Zwischenzeit zusammenzunehmen, sich zu beruhigen, und war nur erst wieder mit sich selbst in Einstimmung, als sie endlich im gewohnten Kleide den Angekommenen begrüßte.
    Insofern der Architekt seinen Gönnerinnen das Beste wünschte, war es ihm angenehm, da er doch endlich scheiden mußte, sie in der guten Gesellschaft des schätzbaren Gehülfen zu wissen; indem er jedoch ihre Gunst auf sich selbst bezog, empfand er es einigermaßen schmerzhaft, sich so bald und, wie es seiner Bescheidenheit dünken mochte, so gut, ja vollkommen ersetzt zu sehen.
    Er hatte noch immer gezaudert, nun aber drängte es ihn hinweg; denn was er wollte sich nach seiner Entfernung mußte gefallen lassen, das wollte er wenigstens gegenwärtig nicht erleben.
    Zu großer Erheiterung dieser halb traurigen Gefühle machten ihm die Damen beim Abschiede noch ein Geschenk mit einer Weste, an der er sie beide lange Zeit hatte stricken sehen, mit einem stillen Neid über den unbekannten Glücklichen, dem sie dereinst werden könnte.
    Eine solcher Gabe ist die angenehmste, die ein liebender, verehrender Mann erhalten mag; denn wenn er dabei des unermüdeten Spiels der schönen Finger gedenkt, so kann er nicht umhin, sich zu schmeicheln, das Herz werde bei einer so anhaltenden Arbeit doch auch nicht ganz ohne Teilnahme geblieben sein.
    Die Frauen hatten nun einen neuen Mann zu bewirrten, dem sie wohlwollten und dem es bei ihnen wohl werden sollte.
    Das weibliche Geschlecht hegt ein eignes, inneres, unwandelbares Interesse, von dem sie nichts in der Welt abtrünnig macht; im äußern, geselligen Verhältnis hingegen lassen sie sich gern und leicht durch den Mann bestimmen, der sie eben

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