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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
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1. KAPITEL
HÄUSER UND LIEDER
    Früher Abend, Winter. Links das schwarze Blockland, von halbrechts das Schimmern der Stadt. Vereinzelt drängen weiße Lichter heran, verwandeln sich und sickern rot in die Ferne. So will es die Erinnerung: Immer beginnt die Geschichte mit dem Bild einer Autofahrt. Doch es ist undeutlich, wichtige Teile fehlen, das Wetter zum Beispiel. Regnete es? Nicht unwahrscheinlich. Auch weiß ich nicht mehr, ob es noch 1994 war, das Jahr des Albums, das ich gerade hörte. Oder doch schon Anfang 1995. Hatte das kürzeste Jahr im Leben Kurt Cobains schon Platz gemacht für das längste in meinem? Jedenfalls müssen noch Weihnachtsferien gewesen sein. Sonst wäre es nicht auf der A 27 passiert.
    Come as you are, as you were, as I want you to be.
    As a friend, as a friend, as an old enemy.
    Take your time, hurry up, the choice is yours, don’t be late.
    Großmutter hatte müde gewirkt. Das allein wäre kaum der Rede wert; schon gar nicht würde ich mich heute noch daran erinnern. Denn ich kannte sie gar nicht anders als müde. Nicht schläfrig, eher erschöpft. Ausgeleiert. Wie der Himmel über ihrer Stadt. Nun aber hatte sich ihrer Müdigkeit ein auffälliger, beinahe greller Zug beigemischt. Sie will nicht mehr, dachte ich. Der Gedanke begleitete meine Fahrt.
    Über viele Jahre, bis zu diesem denkwürdigen Tag, waren meine Besuche in der Weserstraße nach dem ewig gleichen Muster verlaufen.
    Die steile Treppe in den schlundartigen Eingang. Der weiße, leicht gewölbte Klingelknopf. Die Stille im Windfang zwischen den beiden Milchglastüren. Der Duft alten Gemäuers. Die Ewigkeit, bis sich eine ferne Tür öffnet und langsame Schritte durch die Eingangshalle schlurfen. Der saure Kuss auf die Wange. Der Geruch von Kartoffeln in der Küche, von Spargel auf der Toilette. Wir fassen uns an den Händen und wünschen eine gesegnete Mahlzeit: Haut rein, ihr Türken, und nicht gezittert! Die Mittagsruhe. Das Fünfmarkstück, mit dem ich nach einem Quadrat Butterkuchen geschickt werde. Der Apfelsaft, den man mir statt Kaffee in eine zarte Tasse mit Rosendekor einschenkt. Die besorgte Frage nach dem Befinden meines Vaters. Die Frachtschiffe, die sich durch die Zweige der alten Kastanien nach Bremen oder zur Nordsee schieben. Bleib ein anständiger Junge, sagt der Großvater zum Abschied, vergiss uns alte Leute nicht, die Großmutter.
    Seit Großvater tot war, hieß es nur noch: gesegnete Mahlzeit; und zum Abschied: vergiss mich nicht. Aber sonst hatte sich fast nichts geändert.
    Es wäre unangemessen, den gleichförmigen Ablauf in die Nähe eines Rituals zu rücken, in ihm eine souveräne Setzung oder kluges Einverständnis mit dem Unabänderlichen zu sehen. Denn er war nicht gewollt. Er geschah einfach. Ein ums andere Mal servierte Großmutter mir das aufgetaute Hühnerfrikassee, das sie in meiner Phantasie vor vielen Jahren in gewaltigen Mengen auf Vorrat gekocht hatte. Sie wollte nichts mehr ausprobieren, sie suchte auch nichts mehr. Außer imGespräch, da suchte sie immer den hohen Ton. Ob sie ihn traf, war Stimmungssache. Verfehlte sie ihn, standen ihr nur Vorwurf oder Zerknirschung zu Gebote. Vorwurfsvoll protokollierte sie meine Verspätungen, zerknirscht gestand sie, dass es wieder nur Hühnerfrikassee gab.
    Tatsächlich hätte ich es mir aber gar nicht anders gewünscht. Ich mochte Großmutters Frikassee. Und ich mochte auch sie. Obwohl sie nicht mehr gut roch. Obwohl sie ihr Leben mit sich herumschleppte wie einen Staubmantel. Obwohl die Haare an ihrem Kinn kratzig waren. Obwohl sie ständig seufzte und sich über alles und jeden beklagte. Doch wenn sie auf ihren wunden Füßen, die aus den gelöcherten Gesundheitsschuhen herausquollen, wie auf Holzklötzen zum Herd wackelte, wenn ihre wässrigen und immer geröteten Augen mich suchten, ohne meinen Blick je erwidern zu können, wenn sie an Großvaters Grab stand, klein und reglos, als bäte sie still um Einlass, während ihr Kopftuch im Wind flatterte und der überraschend gut geschnittene Trenchcoat sich über ihr mächtiges Hinterteil spannte, dann berührte sie etwas in mir, einen verborgenen Resonanzraum, irgendwo weit unten, dort, wo jetzt die brüchige Stimme Kurt Cobains in mir widerhallte, die gerade das Wort memoria sang, achtlos über die Konsonanten springend, hinein in einen nicht enden wollenden, immer schwerer werdenden Klagelaut, der sich langsam und groß vor den nächsten Atemzug rollte: memo-riii-a .
    In meinen Ohren klang es

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