Die Wahlverwandtschaften
Mannigfaltigkeit gesäet und sollten nun, überallhin verpflanzt, einen Sternhimmel über die Erde bilden.
Einen guten Gedanken, den wir gelegen, etwas Auffallendes, das wir gehört, tragen wir wohl in unser Tagebuch.
Nähmen wir uns aber zugleich die Mühe, aus den Briefen unserer Freunde eigentümliche Bemerkungen, originelle Ansichten, flüchtige geistreiche Worte auszuzeichnen, so würden wir sehr reich werden.
Briefe hebt man auf, um sie nie wieder zu lesen; man zerstört sie zuletzt einmal aus Diskretion, und so verschwindet der schönste, unmittelbarste Lebenshauch unwiederbringlich für uns und andre. Ich nehme mir vor, dieses Versäumnis wiedergutzumachen.
So wiederholt sich denn abermals das Jahresmärchen von vorn.
Wir sind nun wieder, Gott sei Dank!
An seinem artigsten Kapitel.
Veilchen und Maiblumen sind wie Überschriften oder Vignetten dazu.
Es macht uns immer einen angenehmen Eindruck, wenn wir sie in dem Buche des Lebens wieder aufschlagen.
Wir schelten die Armen, besonders die Unmündigen, wenn sie sich an den Straßen herumlegen und betteln.
Bemerken wir nicht, daß sie gleich tätig sind, sobald es was zu tun gibt?
Kaum entfaltet die Natur ihre freundlichen Schätze, so sind die Kinder dahinterher, um ein Gewerbe zu eröffnen; keines bettelt mehr, jedes reicht dir einen Strauß; es hat ihn gepflückt, ehe du vom Schlaf erwachtest, und das Bittende sieht dich so freundlich an wie die Gabe.
Niemand sieht erbärmlich aus, der sich einiges Recht fühlt, fordern zu dürfen.
Warum nur das Jahr manchmal so kurz, manchmal so lang ist, warum es so kurz scheint und so lang in der Erinnerung!
Mir ist es mit dem vergangenen so, und nirgends auffallender als im Garten, wie Vergängliches und Dauerndes ineinandergreift.
Und doch ist nichts so flüchtig, das nicht eine Spur, das nicht seinesgleichen zurücklasse.
Man läßt sich den Winter auch gefallen.
Man glaubt sich freier auszubreiten, wenn die Bäume so geisterhaft, so durchsichtig vor uns stehen.
Sie sind nichts, aber sie denken auch nichts zu.
Wie aber einmal Knospen und Blüten kommen, dann wird man ungeduldig, bis das volle Laub hervortritt, bis die Landschaft sich verkörpert und der Baum sich als eine Gestalt uns entgegendrängt.
Alles Vollkommene in seiner Art muß über seine Art hinausgehen, es muß etwas anderes, Unvergleichbares werden.
In manchen Tönen ist die Nachtigall noch Vogel; dann steigt sie über ihre Klasse hinüber und scheint jedem Gefiederten andeuten zu wollen, was eigentlich singen heiße.
Ein Leben ohne Liebe, ohne die Nähe des Geliebten ist nur eine »comedie a tiroir«, ein schlechtes Schubladenstück.
Man schiebt eine nach der andern heraus und wieder hinein und eilt zur folgenden.
Alles, was auch Gutes und Bedeutendes vorkommt, hängt nur kümmerlich zusammen.
Man muß überall von vorn anfangen und möchte überall enden.
Charlotte von ihrer Seite befindet sich munter und wohl.
Sie freut sich an dem tüchtigen Knaben, dessen vielversprechende Gestalt ihr Auge und Gemüt stündlich beschäftigt.
Sie erhält durch ihn einen neuen Bezug auf die Welt und auf den Besitz.
Ihre alte Tätigkeit regt sich wieder; sie erblickt, wo sie auch hinsieht, im vergangenen Jahre vieles getan und empfindet Freude am Getanen.
Von einem eigenen Gefühl belebt, steigt sie zur Mooshütte mit Ottilien und dem Kinde; und indem sie dieses auf den kleinen Tisch als auf einen häuslichen Altar niederlegt und noch zwei Plätze leer sieht, gedenkt sie der vorigen Zeiten, und eine neue Hoffnung für sie und Ottilien dringt hervor.
Junge Frauenzimmer sehen sich bescheiden vielleicht nach diesem oder jenem Jüngling um, mit stiller Prüfung, ob sie ihn wohl zum Gatten wünschten; wer aber für eine Tochter oder einen weiblichen Zögling zu sorgen hat, schaut in einem weitern Kreis umher.
So ging es auch in diesem Augenblick Charlotten, der eine Verbindung des Hauptmanns mit Ottilien nicht unmöglich schien, wie sie doch auch schon ehemals in dieser Hütte nebeneinander gesessen hatten.
Ihr war nicht unbekannt geblieben, daß jene Aussicht auf eine vorteilhafte Heirat wieder verschwunden sei.
Charlotte stieg weiter, und Ottilie trug das Kind.
Jene überließ sich mancherlei Betrachtungen.
Auch auf dem festen Lande gibt es wohl Schiffbruch; sich davon auf das schnellste zu erholen und herzustellen, ist schön und preiswürdig.
Ist doch das Leben nur auf Gewinn und Verlust berechnet!
Wer macht nicht irgendeine Anlage und
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