Die Wahrheit stirbt zuletzt
dorthinzurückflüchten, als mir in Argentinien der Boden unter den Füßen zu heiß wurde. Ich bin 1912 geboren – in dem Jahr, in dem die Titanic den Eisberg rammte und unterging und das erste Dieselschiff von B&W in Richtung Großbritannien in See stach. Ich stamme aus einer fernen Zeit, die die meisten schon vergessen haben und um die sie sich nicht scheren, an die ich mich aber so überaus deutlich erinnere.
Ich sehe den jungen Mann, der ich einmal war, als wäre es gestern gewesen. Ich sehe meinen Bruder vor mir. Ich sehe meine Schwester, als stünde sie gerade an meiner Seite. Ich sehe Irina. Ich sehe Joe Mercer, und natürlich sehe ich Svend vor meinem inneren Auge, meinen Kameraden aus Kriegstagen, möge Gott seiner kommunistischen Seele gnädig sein. Ich erinnere mich an mein enormes Selbstvertrauen und meine Arroganz. Ich war davon überzeugt, dass die Welt mir gehörte und dass die anderen Menschen in die Welt gesetzt worden waren, um meine Bedürfnisse zu befriedigen.
Ich sehe die jüngere Ausgabe von Magnus Meyer vor mir, sehe, wie er in der Stadt seiner Kindheit aufwacht, gerade mal fünfundzwanzig Jahre alt, aber fest davon überzeugt, über eine große Lebenserfahrung zu verfügen. Die Erlebnisse in Argentinien hatten ihn geprägt, aber durch seine Rückkehr spielte das Leben ihm andere Karten in die Hände, als er erwartet hatte.
Ich bin heute ein allseits geachteter Bürger, aber das ist nur eine Verkleidung. Ich werde mein Pfund Fleisch an den Teufel zahlen. Das ist nur gerecht. Trotzdem bitte ich Gott um Vergebung, jedoch ohne Hoffnung, erhört zu werden. Ich habe meine Geschichte erzählt. Mehr gibt es nicht zu sagen. Es war so, wie ich es in Erinnerung habe, und mein Gedächtnis ist gut. Ich habe Briefe und Tagebücher aufgehoben. Ich habe wichtige Papiere und Aufzeichnungen aufgehoben. Ich habe im Laufe der Jahreeiniges Geld darauf verwendet, die Schlüsselfiguren ausfindig zu machen, und ich habe Ermittler in die Archive geschickt.
Ich möchte nicht, dass es nach meinem Tod zu langwierigen juristischen Auseinandersetzungen kommt, daher habe ich die Geschichte so erzählt, dass sie zum Teil als Fiktion gelesen werden kann.
Es ist vielleicht nicht die ganze Wahrheit, aber es ist meine Wahrheit und Magnus Meyers unwiderrufliches Testament.
1. Teil
Jütland, im Spätsommer 1937
Da sprach der HERR zu Kain:
Wo ist dein Bruder Abel?
Er sprach: Ich weiß nicht;
soll ich meines Bruders Hüter sein?
1. Buch Mose
1
E s ist ein außergewöhnlich warmer und schöner Spätsommertag Ende August 1937, als Magnus Meyer in der Stadt seiner Kindheit aufwacht. Er ist am Tag zuvor angekommen und hat im Hotel Dania übernachtet. Nach dem Frühstück steht er auf dem Marktplatz und atmet den Spätsommerduft ein, schwer und sinnlich und dennoch zart und kühl nach den heißen Jahren in Argentinien. Er erlaubt es sich, ein wenig stehen zu bleiben und die Umgebung auf sich wirken zu lassen. Die Stadt erscheint ihm vertraut und fremd zugleich. Er hört die klappernden Hufe der Pferde, die den Milchwagen ziehen, riecht den Koks, der für den nächsten Winter eingelagert wird, und sieht, wie das Dienstmädchen in der Wohnung über der Bank das Fenster öffnet und es eifrig zu putzen beginnt, während sie ein ihm unbekanntes Lied singt. Es ist eine kleine Stadt. Die Passanten grüßen einander freundlich, während sie an den schmucken Fassaden der kleinen Geschäfte vorübergehen. Er ist guter Dinge, obenauf und bereit, dieses kleine Stückchen Erde zurückzuerobern, es ganz und gar in seine Seele und seinen Körper aufzunehmen und diesen Morgen in seiner alten Stadt einfach nur zu genießen, bevor er am See entlang in Richtung Kuranstalt spaziert.
Es ist ein ganzes Stück Weg, aber das Wetter ist so herrlich, und ihm ist klar, dass er sich von den tristen Dänen mit ihren Depressionen, der grauen Arbeitskleidung und den speckigen Schiebermützen oder altmodischen Filzhüten abhebt. Er ist ein Flaneur, und das gefällt ihm. Er geht sehr aufrecht in seinem hellen, perfekt sitzendenAnzug, den der Schneider in der kleinen, staubigen Seitengasse in Buenos Aires für ihn genäht hat. An den Füßen trägt er die eleganten italienischen Schuhe, die er auf der Fifth Avenue in New York gekauft hat, und auf dem Kopf den hellen Panamahut, exakt auf die Weise ins Gesicht gezogen, wie ein Dandy aus Übersee einen eleganten Hut eben trägt. Er nimmt den Duft seines Rasierwassers wahr, der sich so angenehm mit dem
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