Die Wahrheit stirbt zuletzt
Kuranstalt begleiten. Er macht einen Bogen um die Pferdeäpfel und die Schlaglöcher und achtet auf die wenigen Autos, die durch die Straßen rumpeln, bis er den Stadtkern verlassen hat und die Kurklinik sieht, die zugleich sein Geburtshaus ist.
Sie liegt so da, wie er sie in Erinnerung hat, umgeben von den großen Buchen. Das Laub ist graugrün und staubig und immer noch dicht. Das große weiße Haus, das für die Patienten Hoffnung ausstrahlt, lässt sein Herz für einen Moment schneller schlagen. Was sie für ein Krankenhaus halten, ist in Wahrheit ein Gefängnis. Ein Ort, an dem die physische Bestrafung hart, aber auszuhalten gewesenwar, die kalte seelische Tortur dagegen weitaus schlimmer und eine permanente Mahnung, von dort zu fliehen, sobald sich die Möglichkeit dazu ergab.
Er bleibt einen Moment stehen, raucht eine Zigarette, versucht, die Erinnerungen von sich fernzuhalten, wirft den Zigarettenstummel weg und geht auf das Eingangstor zu.
In der dunklen Empfangshalle des Haupteingangs ist es kühl, als der Pförtner, der neu ist und ihn daher auch nicht erkennt, die Oberschwester herbeiruft.
»Guten Tag, Fräulein Jørgensen«, sagt Magnus.
»Guten Tag, Magnus Meyer. Sie sind also in der Stadt.«
Fräulein Jørgensen hat ihn fünf Jahre lang nicht gesehen, aber sie hebt nur ein wenig die buschigen Augenbrauen und sagt nach der förmlichen Begrüßung und einer kleinen, verlegenen Pause, dass Fräulein Marie bei dem überaus herrlichen Wetter mit einer Gruppe Kurgäste draußen im Freiluftbad sei. Und der junge Mads, ja, das sei eine andere Geschichte … An dieser Stelle spürt er eine Andeutung von Unsicherheit, vielleicht auch Angst angesichts der schwierigen Zeiten, aber ihre Selbstbeherrschung ist wirklich bewundernswert. Sie reicht ihm nicht die Hand, und sie lächelt nicht. Einem ungezogenen Bengel reicht man nicht die Hand.
Auch wenn sie es zu verbergen versucht, kann er in ihrem Blick die Frage erkennen, die zu stellen sie zu autoritätshörig und wohlerzogen ist. Warum ist der verlorene Sohn zurückgekehrt? Was will er hier? Wird der Unfrieden nun wieder Einzug halten? Wird die Harmonie, die für die Heilung von physischen und psychischen Schäden so wichtig ist, nun wieder gestört werden? Sie wird es seinem Vater berichten, sobald sie dazu Gelegenheit hat.
Der Chefarzt und sie arbeiten seit bald dreißig Jahren zusammen. Sie ist groß und schlank, flachbrüstig und hat ein ausgeprägtes Habichtgesicht, das nicht gerade schöner wird durch das Kopftuch, mit dem sie ihr grau meliertesHaar bedeckt. Sie ist die Oberschwester und rechte Hand des Vaters, und sie unterstützt ihn dabei, das Kurbad mit der militärischen Präzision zu führen, die dem pedantischen Wesen des Chefarztes entspricht. Sie riecht wie üblich nach Schwefel und Karbol, nach Heilschlamm und Elektrotherapie, ein Geruch, der untrennbar mit seiner Kinderzeit verbunden ist und der ihn überall auf der Welt in das gefürchtete Land seiner Kindheit zurückbefördert, sobald er auch nur auf eine dieser Ingredienzien stößt.
Sie betrachtet ihn. Ist vielleicht ein bisschen überrascht, dass er durchaus vorzeigbar aussieht in seinem hellen Sommeranzug mit dem Seidenschlips, den er in New York gekauft hat, kurz bevor er mit dem Schiff nach Europa abgereist ist. Der Schlips sitzt gerade, und er hat sich gründlich rasiert. Sie schaut seine Kleidung an, die eleganter ist als die der meisten Leute im krisengeschüttelten Dänemark, und den Hut, den er wohlerzogen in der Hand hält. Er bemerkt, dass ihr gegen ihren Willen gefällt, was sie da sieht, aber dass sie gleichzeitig wünscht, er möge aus ihrem Blickfeld verschwinden, weil sie sich an all die Konflikte und das Chaos erinnert, das er verursacht hat. Der Bengel hat die Genialität seines Vaters eigentlich nie verstanden. Ebenso wenig hat er verstanden, dass Genialität ihren Preis hat, den die weniger Begabten eben zu zahlen haben.
»Ich wohne im Dania«, sagt Magnus. »Würden Sie das bitte meinem Vater ausrichten?«
»Wie Sie wünschen. Aber in den nächsten Stunden ist der Herr Chefarzt mit seinen Patienten beschäftigt. Doktor Krause aus Hamburg begleitet ihn dabei«, antwortet sie, ohne dass diese Aussage für ihn einen Sinn ergibt. Aber wenigstens siezt sie ihn. Wenn er sich recht erinnert, ist es das erste Mal, dass sie das tut. Schließlich war sie es, die ihm die Windeln gewechselt hat, und dass er das nie vergessen dürfe, hat sie ihn seitdem beständig
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