Die Wanderapothekerin 1-6
erbitterten Widerstand seiner Nichte Klara gerechnet. Durch den Verlust des Vaters sieht Klara sich, ihre Mutter und ihre Geschwister in tiefste Armut stürzen. Um das zu verhindern, will sie nach Rudolstadt gehen, um Fürst Ludwig Friedrich um Hilfe anzuflehen. Sie muss dafür einen Weg wählen, auf dem bereits zwei junge Frauen spurlos verschwunden sind. Obwohl die Bewohner der Umgebung glauben, dass der Teufel seine Hand im Spiel hat, lässt Klara sich nicht beirren. Dies ist jedoch nur die erste von vielen Gefahren, denen sich die junge Frau stellen muss …
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Prolog
Kain und Abel
1.
U nter dem Schirmdach einer mächtigen Eiche hatten zwei Männer ein Lagerfeuer entzündet und wärmten sich daran. Beide trugen derbe Schuhe, graue Strümpfe, lederne Kniehosen und einen dunklen, bis zu den Waden reichenden Rock. Da sie diesen vorne offen stehen ließen, kamen darunter einfache Leinenblusen und blau gemusterte Halstücher zum Vorschein. Neben dem einen lag ein schwarzer Dreispitz auf dem Boden, neben dem anderen ein grauer Schlapphut. Beide Männer hatten die Lebensmitte schon überschritten, waren aber noch rüstig genug, um ihre schweren Traggestelle zu schultern und meilenweit zu tragen. Diese hatten sie ein paar Schritte entfernt abgestellt und mit Schnüren an Bäumen gesichert.
Während sie sich unterhielten, wickelte der Kleinere von ihnen einen Strang zähen Teiges um einen Stock und hielt ihn in die Flammen. Sein Begleiter schnitt etwas Pökelfleisch von einem größeren Stück ab und steckte es ebenfalls auf einen abgebrochenen Ast.
»Schau nicht so vorwurfsvoll, Martin! Das Fleisch habe ich von einer Bäuerin für etwas Pferdesalbe erhalten«, beantwortete dieser den fragenden Blick seines Begleiters.
»Es ist ein schönes, mageres Stück. Das gibt eine Bäuerin nicht für einen Klecks Salbe her, Alois«, antwortete Martin Schneidt mit leichtem Tadel in der Stimme.
Er erntete ein Lachen. »Weißt du, Bruder, man kann die Ehrlichkeit auch übertreiben. Wer mit dem Reff durch die Lande zieht, braucht Kraft. Die bekommt man nicht, wenn man tagtäglich nur ein wenig Mehl mit Wasser mengt und sich mit dieser Kost begnügt. Man muss auch mal ein Stück Schinken eintauschen und sich in der Schenke einen Krug Bier oder einen Becher Wein gönnen.«
Martin schüttelte missbilligend den Kopf. »Mein Brot besteht nicht nur aus Mehl und Wasser. Es ist etwas Fett darin und Kräuter, die es wohlschmeckend machen. Auch werde ich nicht auf einen Krug Bier verzichten. Morgen, wenn wir Gernsbach und damit das Ende unserer Strecke erreicht haben, werde ich mir sogar Wein schmecken lassen, samt dem guten Eintopf, den es bei Bolland gibt. So habe ich es jedes Jahr gehalten.«
Er prüfte, ob der um den Stock gewickelte Teig bereits durchgebacken war, und setzte seine Rede fort. »Ich bin froh, dass wir uns bereits heute begegnet sind, Alois, denn so wissen wir, dass wir beide unsere Strecken gut hinter uns gebracht haben. Letztes Jahr musste ich fast zwei Wochen lang auf dich warten und geriet schon in Sorge wegen der Franzosen. Deren Soldaten kommen immer wieder über den Rhein und verheeren ganze Landstriche. Ich fürchtete, du wärst ihnen in die Hände gefallen.«
»Ich bin auch froh, dass wir wieder zusammen sind«, erklärte Alois Schneidt. »Zu zweit lässt es sich doch besser wandern. Außerdem können wir endlich wieder miteinander reder. Deswegen hatte ich gehofft, dich noch vor unserem Ziel zu treffen, und bin in den letzten Tagen rascher ausgeschritten.«
Martin blickte seinen älteren Bruder verwundert an. »Du wolltest mich früher treffen? Aber warum denn? Du weißt doch, dass ich in Bollands Wirtshaus auf dich gewartet hätte.«
»Gewiss!«, antwortete Alois und sah sich nervös um. »Aber ich wollte mich mit dir unter vier Augen unterhalten und nicht dort, wo andere uns belauschen können.«
»Als wenn wir Geheimnisse hätten, die vor der Welt verborgen bleiben müssten!« Martin lachte und prüfte erneut sein Stockbrot. Nun war es durch, aber zu heiß, um sofort gegessen zu werden.
»Wir haben ein Geheimnis, Bruder! Solltest du das vergessen haben?«, fragte Alois mit gedämpfter Stimme.
»Ein Geheimnis? Nicht, dass ich wüsste.«
»Denk gut nach, Martin! Denke sehr gut nach! Es mag jetzt neunzehn Jahre her sein. Unser Vater war gerade gestorben, und wir hatten damals seine Strecke übernommen. Erinnerst du dich an das schlimme Unwetter und an den Schrecken, der uns überfiel, als der
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