Die Wassermuehle
Marotten. Das Pfauenhaus und die Lächelnde Frau waren zwei davon.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass nicht nur Klaus heute spät dran war. Sie beschleunigte ihre Schritte, lief die Luisenstraße entlang am Amtsgericht vorbei und passierte kurz darauf die Nummer fünf: An Sommertagen leuchtete das Haus golden, der frühmorgendliche Oktoberregen machte es grau; die beiden Pfauen kümmerte das nicht.
„Warum hat man sie wohl radschlagend auf zwei Bäume gemeißelt?“
„Wetten, dass ich es schneller herausbekomme als du?“
Klaus und sie waren sehr verliebt gewesen, als sie die filigran gearbeitete Jugendstilfassade zum ersten Mal betrachtet hatten. Das Geheimnis der steinernen Pfauen hatten sie nie gelöst.
Hedi nickte kurz in Richtung des Hauses, ging am Bahnhof vorbei durch die Unterführung und bog in die von Bäumen gesäumte Hohe Straße ein. Regenschwarz lag die Skulptur auf ihrem Steinsockel und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Hedi glaubte fest daran, dass es Tage gab, an denen sie ihr zulächelte. Heute war es zu dunkel dazu.
Eine Minute nach Dienstbeginn erreichte sie den Haupteingang des Krankenhauses. Das Gebäude, in dem ihre Station lag, befand sich im hinteren Bereich des Geländes: ein mit Waschbetonplatten verkleidetes Hochhaus, das seine Farbe selbst in der grellsten Sommersonne nicht wechselte; es war und blieb grau.
Die verschwenderische Blütenfülle, die den Fahrweg zum Haus am vergangenen Freitag noch in ein buntes Band gefasst hatte, war zu bräunlichem Matsch zerfroren. Im Eingang standen zwei junge Frauen und rauchten. Vor der Patientenaufnahme im Erdgeschoss saß ein Mann mit einem weinenden Kind. Zusammen mit den ersten Besuchern wartete Hedi auf den Aufzug. Nach zwei Minuten entschied sie sich für die Treppe.
Die Nachtschwester stand schon auf dem Gang. Sie trug einen schwarzen Mantel über ihrem weißen Kittel und sah müde aus. „Gott, Hedi! Wo bleibst du so lange?“
„Tut mir leid, Inge. Ich ...“
„Schon gut. Ich will nur raus aus diesem Irrenhaus!“
„Wieso? Was war denn?“
„Der übliche Stress halt.“ Inge deutete aufs Schwesternzimmer. „Ich habe euch frischen Kaffee aufgesetzt.“
„Ist Brigitte noch nicht da?“
„Belinda auch nicht.“ Inge lächelte. „Du solltest deine Kolleginnen zu etwas mehr Pünktlichkeit erziehen statt ihnen nachzueifern, Hedwig Ernestine.“ Sie drehte sich um und ging in Richtung Aufzug davon.
Hedi warf ihr einen wütenden Blick hinterher. Sie hasste es, mit ihrem vollen Namen angesprochen zu werden, selbst wenn es im Scherz geschah. Als ob es nicht gereicht hätte, eine geborene Klammbiel zu sein, hatte ihre Mutter sie mit zwei Vornamen einer altmodischen Kitschromanschriftstellerin gestraft. Eine Woche nach Marianne Klammbiels Tod hatte Hedi einhundertfünfundneunzig Courths-Mahler-Romane in Kisten verpackt und in die Müllverbrennung gefahren. Danach hatte sie sich besser gefühlt.
Sie ging ins Schwesternzimmer. Der frisch aufgebrühte Kaffee konnte die schalen Gerüche einer durchwachten Nacht nicht überdecken. Hedi leerte den überquellenden Aschenbecher aus, der auf dem schmucklosen Tisch in der Mitte des Raums stand, und öffnete das Fenster. Im Nebenzimmer tauschte sie ihre Stiefel und die Jeans gegen Birkenstock-Sandalen und eine weiße Hose; über ihre Bluse zog sie einen weißen Kittel.
Sie hatte sich gerade eine Tasse Kaffee eingeschenkt, als Brigitte hereinkam. Sie warf ihre nasse Jacke auf den erstbesten Stuhl und zupfte ihre rostrote Igelfrisur in Form. „Tut mir leid, aber ...“
Hedi grinste. „Deine Tochter kam mal wieder nicht in die Pötte.“
„Nö. Diesmal war’s die Müllabfuhr.“
Seit ihr zweiter Mann mit einer Jüngeren durchgebrannt war, versuchte sich Brigitte in der Rolle der berufstätigen Mutter mit Schulkind. Ihre Depressionen versteckte sie hinter Galgenhumor. Sie holte eine Tasse aus dem Schrank, kippte aufs Geratewohl Zucker hinein und füllte sie bis zum Rand mit Kaffee. „Der Schlaumeier vor mir machte den Motor aus, schlug eine Zeitung auf und fragte grinsend, warum ich mich wegen der paar Minuten so anstelle. Es gibt Tage, da sollte man im Bett bleiben. Wo ist eigentlich Belinda?“
Hedi strich sich eine Ponysträhne aus dem Gesicht. „Vermutlich ebenda.“
Belinda war die Jüngste im Team und dafür bekannt, dass sie in regelmäßigen Abständen von mysteriösen Leiden heimgesucht wurde, die sie mindestens eine Woche lang ans Krankenlager fesselten.
Die Tür
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