Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
quetschte sie ihm jeden Dollarwert an Sicherheit ab, den sie bekommen konnte. Er muss es bemerkt haben, aber solange sie sich an die Regeln hielt, war es für ihn kein Problem. Sie hatte derweil das Haus, bekam alle zwei Jahre ein neues Auto und war die Begünstigte einer Lebensversicherung, die ihre monatlichen Unterhaltszahlungen mehr als ersetzen würde, wenn Marcus etwas zustieß. Er bezahlte sämtliche Schulgebühren, und Jennie sorgte dafür, dass die Mädchen auf die teuersten und angesehensten Schulen gingen, die sie aufnahmen. Familienurlaube, Zahnarztrechnungen, Sommercamps und sonstige Unterrichtsstunden gingen auf seine Kosten, und beiden Mädchen kaufte er ihr erstes Auto.
Marcus Lee hatte vier Kinder mit seiner ersten Ehefrau, zwei mit Jennie sowie zwei weitere mit Frau Nummer drei. Die dritte Frau lebte mit ihren beiden Kinder mittlerweile in Australien. Ava war sicher, dass er sie ebenso liebte und umsorgte wie die anderen Frauen und Kinder. Es war – zumindest nach westlichen Vorstellungen – ein seltsames Arrangement. Doch aus chinesischer Sicht war es traditionsgemäß und akzeptabel, deshalb wurde Marcus Lee für die Art respektiert, wie er seinen Pflichten nachkam. Natürlich musste man reich sein, um sich einen solchen Lebensstil überhaupt leisten zu können. Marcus hatte in dieser Hinsicht Glück, denn er hatte sein erstes richtiges Vermögen mit Textilien gemacht, bevor die Produktion immer häufiger ins Ausland, nach Indonesien oder Thailand, verlagert wurde. Er wechselte erfolgreich in die Spielzeugherstellung und bewies erneut Weitblick, als er sich rechtzeitig daraus zurückzog, ehe Vietnam und China sich zu den Marktführern der Branche entwickelten. Mittlerweile war ein Großteil des Familienkapitals in Immobilien in den New Territories und der Sonderwirtschaftszone Shenzhen angelegt, allem Anschein nach eine stetig sprudelnde Einnahmequelle mit ständigem Wertzuwachs.
Nach Marians Geburt arbeitete Jennie nie wieder. Sie widmete sich ganz ihren Pflichten als zweite Frau und Mutter. Da ihr Mann meist abwesend war, konzentrierte sich ihr Leben fast ausschließlich auf die beiden Töchter. Nicht, dass sie keine anderen Interessen gehabt hätte. Sie spielte mehrmals pro Woche Mah-Jong, und einmal die Woche nahm sie für ihren Baccara-Tag den Bus Richtung Norden zum Casino Rama. Außerdem war sie eine semiprofessionelle Einkäuferin. Alles, was sie erwarb, musste vom Feinsten sein. Imitationen waren ihr ein Gräuel; wenn sie eine Gucci-Tasche kaufte, musste es eine echte sein.
Jennie Lee hatte die fünfzig längst überschritten, gab es jedoch nicht zu, und man sah es ihr auch nicht an. Nichts liebte sie mehr, als für die ältere Schwester ihrer Töchter gehalten zu werden. Sie investierte eine Menge Geld, um ihr jugendliches Aussehen zu erhalten: Cremes, Lotionen, Kräuter, Haarstyling, Mode. Marians zwei Kinder, die in Ottawa bei ihrem Gweilo -Vater lebten, sprachen kaum Chinesisch. Sie wussten, dass Gweilo auf Kantonesisch »grauer Geist« bedeutet. Das einzige andere Wort, das sie kannten, war Langlei , was »die Schöne« bedeutete, denn so nannten sie ihre Großmutter. Alles andere – Grandma zum Beispiel – war tabu.
In vielerlei Hinsicht war Avas Mutter eine verwöhnte und maßlose Prinzessin. Aber das galt für viele Chinesinnen. Sie stellten die »jüdischen Prinzessinnen«, die Ava von der Universität kannte, völlig in den Schatten. Dieser Gedanke ging ihr einmal mehr durch den Kopf, als sie sah, wie eine Frau in roter Seidenbluse mit einer Ausgabe des Sing Tao unter dem Arm das Lucky Season betrat und sich suchend umschaute.
Sie war groß für eine Chinesin, ein Eindruck, der noch verstärkt wurde durch die hochhackigen Schuhe mit Stiletto-Absatz, die aus feinstem, geschmeidigem, rotem Leder bestanden. Zur Seidenbluse trug sie eine schwarze Leinenhose und einen goldenen Gürtel mit Chanel-Logo-Schnalle. Ihre Augenbrauen waren zu zwei hauchdünnen Bögen gezupft, und eine dicke Schicht Make-up bedeckte ihr Gesicht. Selbst aus der Entfernung stach Ava ihr Schmuck ins Auge: riesige Diamant-Ohrstecker, zwei Ringe – einer mit einem mindestens dreikarätigen Diamanten, auf dem anderen prangte ein geschliffener Jadestein, der von Rubinen eingefasst war – und eine Halskette mit einem diamant- und smaragdbesetzten Kreuz. Einzig das schlichte, schwarze Gummi, mit dem sie sich das Haar zum Pferdeschwanz zurückgebunden hatte, störte das Bild der perfekten Hongkonger
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