Die Wasserratte von Wanchai / eBook (German Edition)
Markhams-Pacific-Einkaufszentrum betreten und glauben konnte, man sei in Hongkong gelandet.
Ava fuhr zwei Runden um den Parkplatz, ehe sie eine Lücke fand. Es war voll im Lucky Season, und sie musste zehn Minuten warten, bis ein Tisch frei wurde. Ihre Mutter hatte ihr das Restaurant empfohlen, in dem man an Wochentagen alle Dim-Sum-Gerichte für $ 2,20 bekam. Vier Personen konnten nach Herzenslust Tee trinken, eine Stunde lang schlemmen und trotzdem weniger als dreißig Dollar pro Kopf ausgeben, was sie erstaunlich fand, zumal das Essen ausgezeichnet war und die Portionen die traditionelle Dim-Sum-Größe hatten.
Ihre Mutter aß dort zwei oder drei Mal pro Woche, aber heute war Dienstag, und Ava wusste, dass sie einen Termin bei ihrem Kräutertherapeuten hatte, gefolgt von ihrer wöchentlichen Maniküre. Trotzdem schaute sie sich zur Sicherheit kurz im Restaurant um.
Sie setzte sich an einen Tisch gegenüber der Eingangstür. Ständig kamen Leute herein, die anscheinend weder zu arm noch zu reich waren, um sich Dim Sum für zwei Dollar entgehen zu lassen. Es war erstaunlich, was Chinesen für vermeintlich bessere Qualität in Kauf nahmen. Eröffnete man vier Restaurants nebeneinander, die fast identisches Essen servierten, entwickelte eines davon aus nicht nachvollziehbaren Gründen den Ruf, das beste zu sein. Die Leute standen Schlange und verursachten endlose Wartezeiten, während die anderen Restaurants wunderbar leer waren. Ihre Mutter war ein gutes Beispiel für diese Mentalität.
Jennie Lee war ständig im Leben ihrer Töchter präsent, und mittlerweile hatten sie es akzeptiert. Für Avas Schwester stellte es allerdings ein Problem dar, weil sie mit einem Gweilo verheiratet war – einem Weißen mit britischen Wurzeln –, der Jennie Lees Bedürfnis, derart enge Beziehungen zu ihren Töchtern zu pflegen, nicht verstand. Er hatte keine Ahnung von chinesischen Familien: den ständigen Einmischungen, der lebenslangen Unzertrennlichkeit, den Verpflichtungen der Kinder gegenüber ihren Eltern. Ebenso wenig war er in der Lage, die Lebenssituation zu begreifen, die dazu geführt hatte, dass Mutter und Töchter nach Kanada gezogen waren.
Jennie war gebürtig aus Shanghai, und obwohl sie in Hongkong aufgewachsen war, betrachtete sie sich als waschechte Shanghaierin – das heißt: willensstark, eigensinnig, wenn nötig laut, aber nie unhöflich, protzig oder aufdringlich wie die Hongkonger. Sie hatte Marcus Lee, Avas und Marians Vater, kennengelernt, als sie in einem seiner Unternehmen arbeitete. Er kam ebenfalls aus Shanghai. Sie wurde auf althergebrachte Weise zu seiner Zweitfrau, das heißt, er trennte sich weder von seiner ersten Frau, noch ließ er sich von ihr scheiden. Ava und Marian waren seine Zweitfamilie, anerkannt und gut versorgt, allerdings ohne Aussicht, je mehr von ihm zu erben als seinen Namen.
Als Ava zwei und Marian vier war, gab es Streit zwischen ihren Eltern, und Jennies Anwesenheit in Hongkong wurde zur Belastung. Später erfuhr Ava, dass eine dritte Frau auf der Bildfläche erschienen war, und obwohl ihre Mutter die untergeordnete Stellung zu Ehefrau Nummer eins akzeptierte, weigerte sie sich, im Schatten einer dritten zu stehen. Auf jeden Fall kam Marcus Lee zum Schluss, ein glücklicheres Leben zu haben, wenn sie möglichst weit von ihm entfernt lebten. Eigentlich wollte er sie nach Vancouver umsiedeln, das er von Hongkong aus per Direktflug erreichen konnte, falls er sie besuchen wollte, das aber auch weit genug weg war, wenn Jennie lästig wurde. Doch Jennie hasste Vancouver. Es war ihr zu nass, zu trostlos und erinnerte sie zu sehr an Hongkong. Sie zog mit ihren Töchtern nach Toronto, wogegen es aus Hongkong keine Einwände gab.
Die Mädchen sahen ihren Vater nur ein, zwei Mal im Jahr und immer in Toronto. Er hatte ihrer Mutter ein Haus gekauft, gewährte ihr großzügige finanzielle Unterstützung und kümmerte sich zudem um alle speziellen Bedürfnisse. Wenn er zu Besuch kam, nannten ihn die Mädchen Daddy, ihre Mutter bezeichnete ihn als ihren Ehemann, und ein paar Tage lang führten sie ein »normales« Familienleben. Danach verschwand er wieder, und der Kontakt des Paares beschränkte sich auf tägliche Anrufe.
Es war, wie Ava später begriff, eine Art Geschäftsbeziehung. Ihr Vater bekam, was er wollte, wann er es wollte, und ihre Mutter hatte zwei Töchter und einen Pseudo-Ehemann. Er würde sie oder die Familie nie verleugnen, und ihre Mutter wusste das – deshalb
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