Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
wert?« Und darauf gab es eine objektiv richtige Antwort. Eben das macht die Umstände aus, unter denen die Durchschnittsschätzung einer Gruppe von Menschen – genau das stellt in harter Münze ein Aktienwert schließlich dar – wahrscheinlich korrekt ausfällt. Mag ja auch sein, dass irgendwer in der Tat über Insiderwissen hinsichtlich der fehlerhaften Dichtungsringe verfügte. Es ist aber, selbst wenn dem nicht so wäre, plausibel, dass ein Zusammenkommen sämtlicher bruchstückhaften Informationen in den Köpfen aller Aktienhändler über die Explosion an jenem Tage sich der Wahrheit sehr annäherte. So wie es für all die Personen zutraf, die John Craven halfen, das verlorene U-Boot Scorpion zu finden: Auch wenn kein einziger der Aktienhändler sich der Schuld von Thiokol an dem Unfall gewiss gewesen ist – kollektiv waren sich dessen alle sicher.
An jenem Tag hat der Markt sich klug verhalten, weil er den vier Bedingungen genügte, die für die Weisheit der Masse notwendig sind: Meinungsvielfalt (das Individuum muss irgendwelche eigenen Informationen haben, selbst wenn sie nur eine ausgefallene Deutung der bekannten Fakten zulassen); Unabhängigkeit (die einzelnen Meinungen sind nicht durch Meinungen anderer in ihrem Umkreis geprägt); Dezentralisierung (die Menschen sind in der Lage, sich zu spezialisieren und lokal gegebenes Wissen heranzuziehen); und Aggregation (irgendein Mechanismus bündelt die individuellen Urteile zu einer kollektiven Entscheidung). Wenn eine Gruppe diese Bedingungen erfüllt, wird ihr Urteil mit hoher Wahrscheinlichkeit korrekt sein. Warum? Die Antwort auf die Frage liegt in einer mathematischen Binsenweisheit begründet. Fordert man eine hinreichende Zahl andersartiger, voneinander unabhängiger Personen zu einer Vorhersage oder der Einschätzung einer Wahrscheinlichkeit auf und errechnet danach den Mittelwert ihrer Schätzwerte, so werden die Fehler der Einzelnen einander ausgleichen. Jede individuelle Schätzung besteht gewissermaßen aus zwei Komponenten: aus Information und Irrtum. Man substrahiere den Irrtum, und was bleibt? Die Information.
Nun ist es aber auch nach Ausmerzen des Fehlerfaktors möglich, dass eine Gruppe ein schlechtes Urteil treffen wird. Damit eine Gruppe klug ist, muss nämlich in der Formel »Information minus Irrtum« für den Faktor »Information« auf jeden Fall eine minimale Größe gegeben sein. (Hätte man nach dem Challenger -Unglück eine Schar Kinder aufgefordert, Aktien zu kaufen und zu verkaufen, so wären die lieben Kleinen wohl kaum auf Thiokol als das für dieses Unglück verantwortliche Unternehmen gestoßen.) Auffallend ist aber – und dieser Umstand verleiht einer Redewendung wie der von der »Weisheit der Vielen« einen Sinn -, wie viel Informationen das kollektive Urteil einer Gruppe nur zu oft enthält. In Fällen wie Galtons Experiment oder der Explosion der Challenger entspricht das Kollektivbewusstsein der Masse nahezu der Wirklichkeit.
Vielleicht ist das auch gar nicht überraschend. Wir sind ja schließlich das Produkt einer Evolution und darum vermutlich ausgerüstet, die Realität zu verstehen. Nur: Wer hat denn bisher schon gewusst, dass wir, unter den rechten Umständen, die Welt kollektiv dermaßen gut verstehen? Man stelle doch nur einmal folgendes Gedankenspiel an: 100 Menschen träten zu einem 100-Meter-Lauf an, und man würde danach ihr Durchschnittstempo errechnen. Es würde nie besser sein als die Zeit des schnellsten Läufers – im Gegenteil: Es käme, ganz gleich, wie oft man einen solchen Lauf wiederholte, stets ein schlechteres, mittelmäßiges Resultat dabei heraus. Stellt man dagegen 100 Leuten eine Frage oder die Aufgabe, ein Problem zu lösen, so wird die durchschnittliche Antwort beziehungsweise Lösung des Problems oft mindestens so gut sein wie die Antwort des klügsten Gruppenmitglieds.
Für gewöhnlich bedeutet Durchschnitt Mittelmaß, bei Entscheidungsfindungen dagegen oft Leistungen von herausragender Qualität. Allem Anschein nach sind wir als Menschen also programmiert, kollektiv klug und weise zu sein.
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Zu einer wirklich erfolgreichen Entscheidungsfindung bedarf es natürlich nicht nur einer Vorstellung davon, wie die Welt ist, sondern auch, wie die Welt sein wird (oder, zumindest, wie sie werden könnte). Es ist deshalb so, dass jede Form der Entscheidungsfindung unter ungewissen Bedingungen gut zu sein hat. Was aber wäre ungewisser als die Zukunft? Gruppenintelligenz mag ja gut sein, wenn
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