Die Weisheit der Vielen - Surowiecki, J: Weisheit der Vielen - The Wisdom of Crowds
EINLEITUNG
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An einem Herbsttag des Jahres 1906 brach der britische Gelehrte Francis Galton von seiner Wohnung in der Stadt Plymouth zum Besuch eines Marktes auf dem Lande auf. Den fünfundachtzigjährigen Galton plagten zwar die üblichen Altersbeschwerden, doch wurde er nach wie vor von jener unbezähmbaren Neugier getrieben, die ihm bei seinen Forschungen zur Statistik und über Erbanlagen Ruhm – und einen berüchtigten Ruf – eingebracht hatte. An diesem Tage galt Galtons Wissbegier dem Nutzvieh.
Galtons Ziel war die alljährliche West of England Fat Stock and Poultry Exhibition , eine regionale Messe, zu der sich Bauern und Stadtbewohner aus der Umgebung einfanden, um Rinder, Schafe, Hühner, Pferde und Schweine zu taxieren. Nun mag es seltsam erscheinen, dass ein Wissenschaftler – noch dazu ein so hoch betagter – einen ganzen Nachmittag darauf verwendete, Reihe um Reihe von Ständen abzulaufen und Arbeitspferde und prämiierte Hausschweine zu begutachten; es entsprach jedoch einer gewissen Folgerichtigkeit seines Denkens. Galton war nämlich geradezu besessen von zweierlei: dem Messen körperlicher wie geistiger menschlicher Eigenschaften und der Fortpflanzung. Und was wäre schließlich ein Viehmarkt, wenn nicht ein grandioses Schaufenster für die Auswirkungen guter und schlechter Aufzucht von Tieren?
Erziehung und Bildung waren für Galton deshalb von generell hoher Bedeutung, weil er der Überzeugung war, dass nur sehr wenige Menschen über jene Eigenschaften verfügten, die zum Erhalt einer gesunden, funktionierenden Gesellschaft erforderlich sind. Er hatte solch spezielle Eigenschaften in seinem langen Leben als Wissenschaftler unentwegt durch Messungen zu erfassen versucht – genauer gesagt: Er war immer wieder bemüht gewesen nachzuweisen, dass derartige Eigenschaften der überwiegenden Mehrheit der Menschheit abgingen. So hatte er beispielsweise 1884 auf der Weltausstellung in London ein »anthropometrisches Labor« aufgebaut, wo er mit eigens dazu von ihm entwickelten Geräten und Methoden »die Seh- und Hörschärfe, den Farbsinn, die Urteilsfähigkeit des Auges [und] die Reaktionsschnelligkeit« von Messebesuchern testete. Die Experimente hatten ihm wenig Vertrauen in die Intelligenz des durchschnittlichen Menschen vermittelt, »da die Dummheit und Verbohrtheit vieler Männer und Frauen von schier unglaublichen Ausmaßen« sei. Eine Gesellschaft könnte – so Galtons Überzeugung – nur dann gesund und tüchtig bleiben, wenn ihre Lenkung und die Macht in der Hand weniger Auserwählter verblieben.
Beim Gang über die Messe jenes Herbsttages kam Galton zu einem Wettbewerb, bei dem es um eine Gewichtsbeurteilung ging. Man hatte einen massigen Ochsen zur Schau gestellt, und aus der sich rasch ansammelnden Zuschauermenge trat einer nach dem andern vor, um das Gewicht des Ochsen zu schätzen. (Beziehungsweise es wurden Wetten darauf abgegeben, wie hoch das Gewicht des Ochsen sein würde, nachdem er »geschlachtet und ausgeweidet« wäre.) Für ein Sixpencestück gab es eine gestempelte nummerierte Karte zu kaufen, auf der Name, Adresse und das Schätzgewicht einzutragen waren. Auf die genauesten Schätzungen waren Preisgelder ausgesetzt.
Rund 800 Leute versuchten ihr Glück. Es war eine bunt zusammengewürfelte Mischung – darunter viele Metzger und Landwirte, die wahrscheinlich etwas von Viehgewichten verstanden, jedoch auf der anderen Seite nicht wenige, die, in heutigem Sprachgebrauch, kein »Insiderwissen« über Hornvieh besaßen. »An dem Wettspiel nahmen zahlreiche Laien teil«, berichtete Galton später in der Wissenschaftszeitschrift Nature, »wie all jene Büroangestellten usw., die über keinerlei Fachwissen verfügen und doch, Zeitungsberichten, Meinungen von Freunden oder eigenem Gutdünken folgend, bei Pferderennen wetten.« Es war Galton sofort klar, dass hier eine Analogie zu demokratischen Gesellschaften bestand, in denen Menschen mit völlig unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessen ihr freies Wahlrecht ausüben. »Der durchschnittliche Wettteilnehmer«, schrieb er, »war in aller Wahrscheinlichkeit in gleicher Weise imstande, das Schlachtgewicht des Ochsen zu schätzen, wie der durchschnittliche Wähler den Sachgehalt der meisten politischen Fragen zu beurteilen imstande ist, über die er abstimmt.«
Nun kam es Galton aber darauf an herauszufinden, wozu der »Durchschnittswähler« befähigt ist, weil er nachweisen wollte, dass dieser Typus eben zu sehr wenig
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