Die Weiße Rose
und still hineinwuchsen in das Erwachsensein, in das Leben.
Einer der Lieblingschöre der Jungen lautete:
Schließ Aug und Ohr für eine Weil
vor dem Getös der Zeit,
Du heilst es nicht und hast kein Heil,
als bis Dein Herz sich weiht.
Dein Amt ist hüten, harren, sehn
im Tag die Ewigkeit,
Du bist schon so im Weltgeschehn
gefangen und befreit.
Die Stunde kommt, da man Dich braucht,
dann sei Du ganz bereit,
und in das Feuer, das verraucht,
wirf Dich als letztes Scheit.
Plötzlich lief eine Verhaftungswelle durch ganz Deutschland und zerstörte diese letzten Reste einer großen, zu Beginn unseres Jahrhunderts aufgebrochenen Jugendbewegung.
Für viele dieser Jungen wurde das Gefängnis eine der wichtigen Erschütterungen ihrer Jugend. Und manche von ihnen begriffen, daß eine Jugend und eine Jugendbewegung und die ›jungenschaft‹ einmal enden mußten, weil sie den Schritt zum Erwachsensein zu vollziehen hatten. Die Tagebücher, die Zeitschriften und die Liederhefte wurden beschlagnahmt und eingestampft. Die Jungen wurden nach einigen Wochen oder Monaten wieder freigelassen. Hans schrieb damals in eines seiner Lieblingsbücher auf die erste, unbeschriebene Seite: »Reißt uns das Herz aus dem Leibe – und ihr werdet euch tödlich daran verbrennen.«
Diese Jungenzeit hätte einmal enden müssen, auch ohne Gestapo. Das war die Erkenntnis, die Hans während seiner ersten Berührung mit der grauen Gefängniszelle gewann. Er faßte nun fest das Studium ins Auge, das ihm bevorstand, und entschloß sich für den Arztberuf.
Hans spürte, daß das Schöne und das ästhetische Genießen des Daseins allein, auch das stille Hineinwachsen in das Leben ihm nicht mehr genügten, daß es in der Gefährdung dieser Zeit kaum mehr Halt geben konnte. Daß eine letzte brennende Leere blieb, und daß die beunruhigenden Fragen keine Antwort fanden. Nicht bei Rilke und nicht bei Stefan George, nicht bei Nietzsche und auch nicht bei Hölderlin. Aber Hans hatte das sichere Gefühl, daß sein redliches Suchen ihn richtig führen werde. Er begegnete schließlich, auf merkwürdigen Umwegen, den antiken Philosophen, er lernte Plato und Sokrates kennen. Er stieß auf die frühen christlichen Denker, er beschäftigte sich mit Augustinus. Er entdeckte Pascal. Die Heilige Schrift bekam eine neue, überraschende Bedeutung; Aktualität brach durch die alten, scheinbar verdorrten Worte und gab ihnen das Gewicht des Überzeugenden.
Jahre waren seitdem vergangen. Aus dem Krieg im Innern, gegen einzelne Menschen, war der Krieg gegen die Völker geworden, der Zweite Weltkrieg.
Hans hatte bereits an der Universität München zu studieren begonnen, als der Krieg ausbrach. Zunächst war ihm noch eine ungewisse Frist geblieben, sein Studium fortzusetzen. Dann wurde er zu einer Studentenkompanie eingezogen, und wenig später machte er als Sanitäter den Frankreichfeldzug mit. Zurückversetzt zur Studentenkompanie in München, konnte er weiterstudieren. Aber es war ein höchst seltsames Studentenleben, halb Soldat, halb Student, einmal in der Kaserne, dann wieder in der Universität oder in der Klinik. Das waren zwei entgegengesetzte Welten, die sich nie vertragen wollten. Hans fiel dieses zwiespältige Leben besonders schwer. Schwerer noch und dunkler aber lastete auf ihm, daß er in einem Staat leben mußte, in dem die Unfreiheit, der Haß und die Lüge nun zum Normalzustand geworden waren.
Wurde nicht die Klammer der Gewaltherrschaft immer enger und unerträglicher? War nicht jeder Tag, an dem man noch in Freiheit lebte, ein Geschenk? Denn niemand war davor sicher, einer geringfügigen Bemerkung wegen verhaftet zu werden, vielleicht für immer zu verschwinden. Konnte Hans sich wundern, wenn morgen früh die Geheime Staatspolizei klingelte und seiner Freiheit ein Ende setzte?
Hans wußte gut, daß er nur einer von Millionen in Deutschland war, die ähnlich wie er empfanden. Aber wehe, wenn jemand ein freies, offenes Wort riskierte. Er wurde unerbittlich ins Gefängnis geworfen. Wehe, wenn eine Mutter ihrem bedrängten Herzen Luft machte und den Krieg verwünschte. Sie wurde ihres Lebens so schnell nicht wieder froh. Ganz Deutschland schien von geheimen Ohren belauscht.
Im Frühjahr 1942 fanden wir wiederholt hektographierte Briefe ohne Absender in unserem Briefkasten. Sie enthielten Auszüge aus Predigten des Bischofs von Münster, Graf Galen, und sie verbreiteten Mut und Aufrichtigkeit.
»Noch steht ganz Münster unter dem
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