Flucht aus dem Harem
1
Leila trippelte zwischen Zenda und ihrer Mutter durch den Garten, der den Palast vom Harem des Paschas trennte. In ihren mit Hennaornamenten bemalten Händen hielt sie ein kleines goldenes Kästchen. Die unzähligen Juwelen, mit denen es besetzt war, funkelten im Sonnenlicht. Sie konnte gar nicht erwarten, es zu öffnen. Was für unermesslich wertvolle Schätze mochten sich wohl in der Schatulle befinden, die ihr der Pascha höchstpersönlich zu ihrem zwölften Geburtstag überreicht hatte? Eine ungewöhnliche Geste, denn ihr Herr hatte noch niemals zuvor das Wort an sie gerichtet. Aber heute hatte er sie lange und gründlich gemustert und sie war froh gewesen, dass die Dienerinnen ihrer Mutter sie zum ersten Mal wie eine erwachsene Frau gekleidet und frisiert hatten.
Man hatte sie in den großen Saal gebracht, wo der Pascha auf seinem Thron saß und ihr entgegenblickte. Demütig war sie vor ihm auf die Knie gesunken und erhob sich erst, als der große Ahmet Pascha zu ihrer Überraschung das Wort an sie richtete. „Ich sehe, du bist gewachsen, Leila. Nicht mehr lange, und du wirst eine Frau sein.“
Sie hielt den Blick gesenkt, ihre Handflächen waren feucht, und ihr Herz raste vor Aufregung, da der Pascha tatsächlich mit ihr sprach. Das würden ihr die anderen Mädchen niemals glauben, und …
„Sieh mich an!“
Unwillkürlich ruckte ihr Kopf hoch. Nur eine Armeslänge entfernt saß der allmächtige Pascha mit gespreizten Beinen und locker auf den Armlehnen liegenden Händen. Das dunkle Gesicht mit dem am Kiefer entlanglaufenden dünnen Sarazenenbart stand in krassem Gegensatz zum weißen, mit Goldstickerei verzierten Kaftan. Seine Hosen waren ebenfalls weiß und die gebogenen Pantoffel mit Perlen und Edelsteinen besetzt.
„Eine Haut, so fein wie Perlmutt und Augen von der Farbe persischer Amethyste“, sagte er nachdenklich. „Leila, du wirst eine Schönheit werden, das Juwel meines Hauses.“
Leilas Wangen röteten sich, und heiße Freude durchströmte sie bei diesen Worten. Der Pascha fand sie schön! Sie würde in Zukunft den Kopf hoch tragen. Auch ihre Mutter würde zufrieden sein, hatte sie sich doch so viel Mühe gegeben, sie heute perfekt aussehen zu lassen.
Ahmet Pascha hob eine schmale, mit Ringen geschmückte Hand, und ein Diener mit nacktem Oberkörper in orangefarbenen Pluderhosen trat näher. Er reichte seinem Gebieter ein goldenes Schatzkästchen.
„Nun, Leila“, begann der Pascha. „Dieses Geschenk soll dich immer an den heutigen Tag erinnern. In dieser kleinen Truhe liegt deine Zukunft.“
Er hielt ihr das Kästchen hin, und Leila nahm es mit zitternden Händen entgegen. Ihr Mund fühlte sich sandig an und die Zunge klebte am Gaumen. „Ich danke Euch, mein Gebieter“, brachte sie mühsam und viel zu leise heraus. Dann besann sie sich und küsste die ihr noch immer entgegengestreckte Hand, natürlich ohne sie tatsächlich zu berühren.
Die Andeutung eines Lächelns glitt über das dunkle Gesicht. „Ich danke dir, dass du mich mit der Ahnung deiner künftigen Schönheit beglückt hast. Du darfst dich entfernen, Leila. Aber sei gewiss, dass ich dich nicht vergessen werde.“
Das Kästchen so fest an die Brust gedrückt, dass die Edelsteine durch die dünne Seide schmerzhaft in ihr Fleisch schnitten, ging Leila rückwärts durch Halle. Sie hielt den Blick gesenkt, sah aber das feingearbeitete Mosaik des Bodens nicht. Stattdessen konzentrierte sie sich darauf, sich mit den eleganten, fließenden Bewegungen zu entfernen, die sie immer an den erwachsenen Frauen beobachtete.
Zu ihrer Erleichterung gelang es ihr tatsächlich, ohne Straucheln beim geschwungenen Torbogen des Saales anzukommen, wo Zenda und ihre Mutter auf sie warteten. Zu dritt verbeugten sie sich ein letztes Mal vor dem Pascha und verließen den Saal.
„Lass sehen, Leila! Was hat dir der Pascha geschenkt?“ Zenda versuchte, ihr das Kästchen zu entwinden, aber Leila hielt es mit aller Kraft fest und schüttelte energisch den Kopf.
„Sie kann es uns später zeigen“, sagte ihre Mutter. „Immerhin ist es ihr Geschenk, darum darf Leila entscheiden, wann sie es uns zeigt. Und ob sie es uns überhaupt zeigt.“
Erleichtert lockerte Leila ihren Griff und bemühte sich, mit den beiden Frauen Schritt zu halten. Die Gänge des Palastes erschienen ihr endlos, und die Orientierung zwischen all den hohen Säulen fiel ihr schwer. Bisher hatte sie den Harem nicht sehr häufig verlassen dürfen.
In diesem Moment kamen ihnen zwei Wachen
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