Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
Aber wie nicht Alles was wir essen dem Organismus sofort einverleibt wird, sondern nur sofern es verdaut worden, wobei nur ein kleiner Theil davon wirklich assimilirt wird, das Uebrige wieder abgeht, weshalb mehr essen als man assimilliren kann, unnütz, ja schädlich ist; gerade so verhält es sich mit Dem was wir lesen : nur sofern es Stoff zum Denken giebt, vermehrt es unsere Einsicht und eigentliches Wissen. Daher sagte schon Herakleitos polymathia noun ou didaskei , (multiscitia non dat intellectum) : mir aber scheint die Gelehrsamkeit mit einem schweren Harnisch zu vergleichen, als welcher allerdings den starken Mann völlig unüberwindlich macht, hingegen dem Schwachen eine Last ist, unter der er vollends zusammensinkt. –
Die in unserm dritten Buch ausgeführte Darstellung der Erkenntniß der (Platonischen) Ideen, als der höchsten dem Menschen erreichbaren und zugleich als einer durchaus anschauenden , ist uns ein Beleg dazu, daß nicht im abstrakten Wissen, sondern in der richtigen und tiefen anschaulichen Auffassung der Welt die Quelle wahrer Weisheit liegt. Daher auch können Weise in jeder Zeit leben, und die der Vorzeit bleiben es für alle kommenden Geschlechter: Gelehrsamkeit hingegen ist relativ: die Gelehrten der Vorzeit sind meistens Kinder gegen uns und bedürfen der Nachsicht.
Dem aber, der studirt, um Einsicht zu erlangen, sind die Bücher und Studien bloß Sprossen der Leiter, auf der er zum Gipfel der Erkenntniß steigt: sobald eine Sprosse ihn um einen Schritt gehoben hat, läßt er sie liegen. Die Vielen hingegen, welche studiren, um ihr Gedächtniß zu füllen, benutzen nicht die Sprossen der Leiter zum Steigen, sondern nehmen sie ab und laden sie sich auf, um sie mitzunehmen, sich freuend an der zunehmenden Schwere der Last. Sie bleiben ewig unten, da sie Das tragen, was sie hätte tragen sollen.
Auf der hier auseinandergesetzten Wahrheit, daß der Kern aller Erkenntniß die anschauende Auffassung ist, beruht auch die richtige und tiefe Bemerkung des Helvetius , daß die wirklich eigenthümlichen und originellen Grundansichten, deren ein begabtes Individuum fähig ist, und deren Verarbeitung, Entwickelung und mannigfaltige Benutzung alle seine, wenn auch viel später geschaffenen Werke sind, nur bis zum fünfunddreißigsten, spätestens vierzigsten Lebensjahre in ihm entstehn, ja, eigentlich die Folge der in frühester Jugend gemachten Kombinationen sind. Denn sie sind eben nicht bloße Verkettungen abstrakter Begriffe, sondern die ihm eigene, intuitive Auffassung der objektiven Welt und des Wesens der Dinge. Daß nun diese bis zu dem angegebenen Alter ihr Werk vollendet haben muß, beruht theils darauf, daß schon bis dahin die Ektypen aller (Platonischen) Ideen sich ihm dargestellt haben, daher später keine mehr mit der Stärke des ersten Eindrucks auftreten kann; theils ist eben zu dieser Quintessenz aller Erkenntniß, zu diesen Abdrücken avant la lettre der Auffassung, die höchste Energie der Gehirnthätigkeit erfordert, welche bedingt ist durch die Frische und Biegsamkeit seiner Fasern und durch die Heftigkeit, mit der das arterielle Blut zum Gehirn ströhmt: diese aber ist am stärksten nur so lange das arterielle System über das venöse ein entschiedenes Uebergewicht hat, welches schon mit den ersten dreißiger Jahren abnimmt, bis endlich nach dem zweiundvierzigsten Jahr das venöse System das Uebergewicht erhält; wie dies Cabanis vortrefflich und belehrend auseinandergesetzt hat. Daher sind die zwanziger und die ersten dreißiger Jahre für den Intellekt was der Mai für die Bäume ist: nur jetzt setzen sich die Blüthen an, deren Entwickelung alle späteren Früchte sind. Die anschauliche Welt hat ihren Eindruck gemacht und dadurch den Fonds aller folgenden Gedanken des Individuums gegründet. Dieses kann durch Nachdenken das Aufgefaßte sich verdeutlichen, es kann noch viele Kenntnisse erwerben, als Nahrung der ein Mal angesetzten Frucht, es kann seine Ansichten erweitern, seine Begriffe und Urtheile berichtigen, durch endlose Kombinationen erst recht Herr des erworbenen Stoffes werden, ja, seine besten Werke wird es meistens viel später produciren, wie die größte Wärme erst dann anfängt, wann die Tage schon abnehmen; aber neue Urerkentnnisse, aus der allein lebendigen Quelle der Anschauung, hat es nicht mehr zu hoffen. Im Gefühl hievon bricht Byron in die wunderschöne Klage aus:
No more – no more – Oh! never more on me
The freshness of the heart can fall
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