Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
Realitäten. Ueber dieselben wird dann gar spitzfindig hin und her geredet, hingegen gar nie auf den Ursprung jener Begriffe, auf die Sache selbst losgegangen, auf das wirkliche Menschenleben, auf welches doch allein jene Begriffe sich beziehn, aus dem sie geschöpft seyn sollen, und mit dem es die Moral eigentlich zu thun hat. Gerade deshalb sind diese Diatriben eben so unfruchtbar und nutzlos, wie sie langweilig sind; womit viel gesagt ist. Leute, wie diesen nur gar zu gern philosophirenden Theologen, findet man zu allen Zeiten, berühmt, während sie leben, nachher bald vergessen. Ich rathe hingegen lieber Die zu lesen, welchen es umgekehrt ergangen: denn die Zeit ist kurz und kostbar.
Wenn nun, allem hier Gesagten zufolge, weite, abstrakte, zumal aber durch keine Anschauung zu realisirende Begriffe nie die Erkenntnißquelle, der Ausgangspunkt, oder der eigentliche Stoff des Philosophirens seyn dürfen; so können doch bisweilen einzelne Resultate desselben so ausfallen, daß sie sich bloß in abstracto denken, nicht aber durch irgend eine Anschauung belegen lassen. Erkenntnisse dieser Art werden freilich auch nur halbe Erkenntnisse seyn: sie zeigen gleichsam nur den Ort an, wo das zu Erkennende liegt; aber es bleibt verhüllt. Daher soll man auch nur im äußersten Fall und wo man an den Gränzen der unsern Fähigkeiten möglichen Erkenntniß angelangt ist, sich mit dergleichen Begriffen begnügen. Ein Beispiel der Art wäre etwan der Begriff eines Seyns außer der Zeit; desgleichen der Satz: die Unzerstörbarkeit unsers wahren Wesens durch den Tod ist keine Fortdauer desselben. Bei Begriffen dieser Art wankt gleichsam der feste Boden, der unser sämmtliches Erkennen trägt: das Anschauliche. Daher darf zwar bisweilen und im Nothfall das Philosophiren in solche Erkenntnisse auslaufen, nie aber mit ihnen anheben.
Das oben gerügte Operiren mit weiten Abstraktis, unter gänzlichem Verlassen der anschaulichen Erkenntniß, aus der sie abgezogen worden und welche daher die bleibende, naturgemäße Kontrole derselben ist, war zu allen Zeiten die Hauptquelle der Irrthümer des dogmatischen Philosophirens. Eine Wissenschaft aus der bloßen Vergleichung von Begriffen, also aus allgemeinen Sätzen aufgebaut, könnte nur dann sicher seyn, wenn alle ihre Sätze synthetische a priori wären, wie dies in der Mathematik der Fall ist: denn nur solche leiden keine Ausnahmen. Haben die Sätze hingegen irgend einen empirischen Stoff; so muß man diesen stets zur Hand behalten, um die allgemeinen Sätze zu kontroliren. Denn alle irgendwie aus der Erfahrung geschöpften Wahrheiten sind nie unbedingt gewiß, haben daher nur eine approximative Allgemeingültigkeit; weil hier keine Regel ohne Ausnahme gilt. Kette ich nun dergleichen Sätze, vermöge des Ineinandergreifens ihrer Begriffssphären, an einander; so wird leicht ein Begriff den andern gerade da treffen, wo die Ausnahme liegt: ist aber dies im Verlauf einer langen Schlußkette auch nur ein einziges Mal geschehn; so ist das ganze Gebäude von seinem Fundament losgerissen und schwebt in der Luft. Sage ich z.B. »die Wiederkäuer sind ohne vordere Schneidezähne«, und wende dies und was daraus folgt auf die Kameele an; so wird Alles falsch: denn es gilt nur von den gehörnten Wiederkäuern. – Hieher gehört gerade was Kant das Vernünfteln nennt und so oft tadelt: denn dies besteht eben in einem Subsumiren von Begriffen unter Begriffe, ohne Rücksicht auf den Ursprung derselben, und ohne Prüfung der Richtigkeit und Ausschließlichkeit einer solchen Subsumtion, wodurch man dann, auf längerm oder kürzerm Umwege, zu fast jedem beliebigen Resultat, das man sich als Ziel vorgesteckt hatte, gelangen kann; daher dieses Vernünfteln vom eigentlichen Sophisticiren nur dem Grade nach verschieden ist. Nun aber ist, im Theoretischen, Sophisticiren eben das, was im Praktischen Schikaniren ist. Dennoch hat selbst Plato sich sehr häufig jenes Vernünfteln erlaubt: Proklos hat, wie schon erwähnt, diesen Fehler seines Vorbildes, nach Weise aller Nachahmer, viel weiter getrieben. Dionysius Areopagita , De divinis nominibus , ist ebenfalls stark damit behaftet. Aber auch schon in den Fragmenten des Eleaten Melissos finden wir deutliche Beispiele von solchem Vernünfteln (besonders §§ 2 - 5 in Brandis Comment. Eleat.): sein Verfahren mit den Begriffen, die nie die Realität, aus der sie ihren Inhalt haben, berühren, sondern, in der Atmosphäre abstrakter Allgemeinheit schwebend,
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