Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
diese so mannigfaltigen und so weit reichenden Äußerungen aus einem gemeinschaftlichen Princip entspringen, aus jener besonderen Geisteskraft, die der Mensch vor dem Thiere voraus hat, und welche man Vernunft , ho logos, to logistikon, to logimon , ratio , genannt hat, ist die einstimmige Meinung aller Zeiten und Völker. Auch wissen alle Menschen sehr wohl die Aeußerungen dieses Vermögens zu erkennen und zu sagen, was vernünftig, was unvernünftig sei, wo die Vernunft im Gegensatz mit andern Fähigkeiten und Eigenschaften des Menschen auftritt, und endlich, was wegen des Mangels derselben auch vom klügsten Thiere nie zu erwarten steht. Die Philosophen aller Zeiten sprechen im Ganzen auch übereinstimmend mit jener allgemeinen Kenntniß der Vernunft, und heben überdies einige besonders wichtige Aeußerungen derselben hervor, wie die Beherrschung der Affekte und Leidenschaften, die Fähigkeit, Schlüsse zu machen und allgemeine Principien, sogar solche, die vor aller Erfahrung gewiß sind, aufzustellen u.s.w. Dennoch sind alle ihre Erklärungen vom eigentlichen Wesen der Vernunft schwankend, nicht scharf bestimmt, weitläuftig, ohne Einheit und Mittelpunkt, bald diese bald jene Aeußerung hervorhebend, daher oft von einander abweichend. Dazu kommt, daß Viele dabei von dem Gegensatz zwischen Vernunft und Offenbarung ausgehn, welcher der Philosophie ganz fremd ist, und nur dient die Verwirrung zu vermehren. Es ist höchst auffallend, daß bisher kein Philosoph alle jene mannigfaltigen Aeußerungen der Vernunft strenge auf eine einfache Funktion zurückgeführt hat, die in ihnen allen wiederzuerkennen wäre, aus der sie alle zu erklären wären und die demnach das eigentliche innere Wesen der Vernunft ausmachte. Zwar giebt der vortreffliche Locke, im » Essay on human understanding «. Buch 2, Kap. 11, §10 u. 11, als den unterscheidenden Charakter zwischen Thier und Mensch die abstrakten allgemeinen Begriffe sehr richtig an, und Leibnitz wiederholt Dieses völlig beistimmend, in den » Nouveaux essays sur l'entendement humain «. Buch 2, Kap. 11, § 10 u. 11. Allein wenn Locke in Buch 4, Kap. 17, § 2, 3, zur eigentlichen Erklärung der Vernunft kommt, so verliert er ganz jenen einfachen Hauptcharakter derselben aus dem Gesicht, und geräth eben auch auf eine schwankende, unbestimmte, unvollständige Angabe zerstückelter und abgeleiteter Aeußerungen derselben: auch Leibnitz, an der mit jener korrespondirenden Stelle seines Werkes, verhält sich im Ganzen eben so, nur mit mehr Konfusion und Unklarheit. Wie sehr nun aber Kant den Begriff vom Wesen der Vernunft verwirrt und verfälscht hat, darüber habe ich im Anhange ausführlich geredet. Wer aber gar sich die Mühe giebt, die Masse philosophischer Schriften, welche seit Kant erschienen sind, in dieser Hinsicht zu durchgehn, der wird erkennen, daß, so wie die Fehler der Fürsten von ganzen Völkern gebüßt werden, die Irrthümer großer Geister ihren nachtheiligen Einfluß auf ganze Generationen, sogar auf Jahrhunderte verbreiten, ja, wachsend und sich fortpflanzend, zuletzt in Monstrositäten ausarten: welches Alles daher abzuleiten ist, daß, wie Berkeley sagt: Few men think; yet all will have opinions . 15
Wie der Verstand nur eine Funktion hat: unmittelbare Erkenntniß des Verhältnisses von Ursache und Wirkung, und die Anschauung der wirklichen Welt, wie auch alle Klugheit, Sagacität und Erfindungsgabe, so mannigfaltig auch ihre Anwendung ist, doch ganz offenbar nichts Anderes sind, als Aeußerungen jener einfachen Funktion; so hat auch die Vernunft eine Funktion: Bildung des Begriffs; und aus dieser einzigen erklären sich sehr leicht und ganz und gar von selbst alle jene oben angeführten Erscheinungen, die das Leben des Menschen von dem des Thieres unterscheiden, und auf die Anwendung oder Nicht-Anwendung jener Funktion deutet schlechthin Alles, was man überall und jederzeit vernünftig oder unvernünftig genannt hat 16 .
§ 9
Die Begriffe bilden eine eigenthümliche, von den bisher betrachteten, anschaulichen Vorstellungen toto genere verschiedene Klasse, die allein im Geiste des Menschen vorhanden ist. Wir können daher nimmer eine anschauliche, eine eigentlich evidente Erkenntniß von ihrem Wesen erlangen; sondern auch nur eine abstrakte und diskursive. Es wäre daher ungereimt zu fordern, daß sie in der Erfahrung, sofern unter dieser die reale Außenwelt, welche eben anschauliche Vorstellung ist, verstanden wird, nachgewiesen, oder wie
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