Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
Wie, den Zwecken des Willens einer Thiergattung gemäß, sie mit Huf, Klaue, Hand, Flügeln, Geweih oder Gebiß versehn auftritt, so auch mit einem mehr oder weniger entwickelten Gehirn, dessen Funktion die zu ihrem Bestand erforderliche Intelligenz ist. Je komplicirter nämlich, in der aufsteigenden Reihe der Thiere, die Organisation wird, desto vielfacher werden auch ihre Bedürfnisse, und desto mannigfaltiger und specieller bestimmt die Objekte, welche zur Befriedigung derselben taugen, desto verschlungener und entfernter mithin die Wege, zu diesen zu gelangen, welche jetzt alle erkannt und gefunden werden müssen: in dem selben Maaße müssen daher auch die Vorstellungen des Thieres vielseitiger, genauer, bestimmter und zusammenhängender, wie auch seine Aufmerksamkeit gespannter, anhaltender und erregbarer werden, folglich sein Intellekt entwickelter und vollkommener seyn. Demgemäß sehn wir das Organ der Intelligenz, also das Cerebralsystem, sammt den Sinneswerkzeugen, mit der Steigerung der Bedürfnisse und der Komplikation des Organismus gleichen Schritt halten, und die Zunahme des vorstellenden Theiles des Bewußtseyns (im Gegensatz des wollenden ) sich körperlich darstellen im immer größer werdenden Verhältniß des Gehirns überhaupt zum übrigen Nervensystem, und sodann des großen Gehirns zum kleinen; da (nach Flourens ) Ersteres die Werkstätte der Vorstellungen, Letzteres der Lenker und Ordner der Bewegungen ist. Der letzte Schritt, den die Natur in dieser Hinsicht gethan hat, ist nun aber unverhältnißmäßig groß. Denn im Menschen erreicht nicht nur die bis hieher allein vorhandene anschauende Vorstellungskraft den höchsten Grad der Vollkommenheit; sondern die abstrakte Vorstellung, das Denken, d.i. die Vernunft , und mit ihr die Besonnenheit, kommt hinzu. Durch diese bedeutende Steigerung des Intellekts, also des sekundären Theiles des Bewußtseyns, erhält derselbe über den primären jetzt insofern ein Uebergewicht, als er fortan der vorwaltend thätige wird. Während nämlich beim Thiere das unmittelbare Innewerden seines befriedigten oder unbefriedigten Begehrens bei Weitem das Hauptsächliche seines Bewußtseyns ausmacht, und zwar um so mehr, je tiefer das Thier steht, so daß die untersten Thiere nur durch die Zugabe einer dumpfen Vorstellung sich von den Pflanzen unterscheiden; so tritt beim Menschen das Gegentheil ein. So heftig, selbst heftiger als die irgend eines Thieres, seine Begehrungen, als welche zu Leidenschaften anwachsen, auch sind; so bleibt dennoch sein Bewußtseyn fortwährend und vorwaltend mit Vorstellungen und Gedanken beschäftigt und erfüllt. Ohne Zweifel hat hauptsächlich dieses den Anlaß gegeben zu jenem Grundirrthum aller Philosophen, vermöge dessen sie als das Wesentliche und Primäre der sogenannten Seele, d.h. des innern oder geistigen Lebens des Menschen, das Denken setzen, es allemal voranstellend, das Wollen aber, als ein bloßes Ergebniß desselben, erst sekundär hinzukommen und nachfolgen lassen. Wenn aber das Wollen bloß aus dem Erkennen hervorgienge; wie könnten denn die Thiere, sogar die unteren, bei so äußerst geringer Erkenntniß, einen oft so unbezwinglich heftigen Willen zeigen? Weil demnach jener Grundirrthum der Philosophen gleichsam das Accidenz zur Substanz macht, führt er sie auf Abwege, aus denen nachher kein Herauslenken mehr ist. – Jenes beim Menschen nun also eintretende relative Ueberwiegen des erkennenden Bewußtseins über das begehrende , mithin des sekundären Theiles über den primären, kann in einzelnen, abnorm begünstigten Individuen so weit gehn, daß, in den Zeitpunkten der höchsten Steigerung, der sekundäre oder erkennende Theil des Bewußtseyns sich vom wollenden ganz ablöst und für sich selbst in freie, d.h. vom Willen nicht angeregte, also ihm nicht mehr dienende Thätigkeit geräth, wodurch er rein objektiv und zum klaren Spiegel der Welt wird, woraus dann die Konceptionen des Genies hervorgehn, welche der Gegenstand unsers dritten Buches sind.
3) Wenn wir die Stufenreihe der Thiere abwärts durchlaufen, sehn wir den Intellekt immer schwächer und unvollkommener werden: aber keineswegs bemerken wir eine entsprechende Degradation des Willens. Vielmehr behält dieser überall sein identisches Wesen und zeigt sich als große Anhänglichkeit am Leben, Sorge für Individuum und Gattung, Egoismus und Rücksichtslosigkeit gegen alle Andern, nebst den hieraus entspringenden Affekten. Selbst im kleinsten Insekt
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