Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Kálmán brachten die Tradition des Walzers und der Operette zu einer neuen Blüte, Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Beer-Hofmann, Peter Altenberg gaben der Wiener Literatur einen europäischen Rang, wie sie ihn nicht einmal unter Grillparzer und Stifter besessen, Sonnenthal, Max Reinhardt erneuerten den Ruhm der Theaterstadt über die ganze Erde, Freud und die großen Kapazitäten der Wissenschaft lenkten die Blicke auf die altberühmte Universität – überall, als Gelehrte, als Virtuosen, als Maler, als Regisseure und Architekten, als Journalisten behaupteten sie im geistigen Leben Wiens unbestritten hohe und höchste Stellen. Durch ihre leidenschaftliche Liebe zu dieser Stadt, durch ihren Willen zur Angleichung hatten sie sich vollkommen angepaßt und waren glücklich, dem Ruhme Österreichs zu dienen; sie fühlten ihr Österreichertum als eine Mission vor der Welt, und – man muß es um der Ehrlichkeit willen wiederholen – ein Gutteil, wenn nicht das Großteil all dessen, was Europa, was Amerika als den Ausdruck einer neu aufgelebten österreichischen Kultur heute bewundert in der Musik, in der Literatur, im Theater, im Kunstgewerbe ist aus dem Wiener Judentum geschaffen gewesen, das selbst wieder in dieser Entäußerung eine höchste Leistung seines jahrtausendalten geistigen Triebes erreichte. Eine durch Jahrhunderte weglose intellektuelle Energie verband sich hier einer schon etwas müde gewordenen Tradition, nährte, belebte, steigerte, erfrischte sie mit neuer Kraft und durch unermüdliche Regsamkeit; erst die nächsten Jahrzehnte werden erweisen, welches Verbrechen an Wien begangen wurde, indem man diese Stadt, deren Sinn und Kultur gerade in der Begegnung der heterogensten Elemente, in ihrer geistigen Übernationalität bestand, gewalttätig zu nationalisieren und zu provinzialisieren suchte. Denn das Genie Wiens – ein spezifisch musikalisches – war von je gewesen, daß es alle volkhaften, alle sprachlichen Gegensätze in sich harmonisierte, seine Kultur eine Synthese aller abendländischen Kulturen; wer dort lebte und wirkte, fühlte sich frei von Enge und Vorurteil. Nirgends war es leichter, Europäer zu sein, und ich weiß, daß ich es zum Teil dieser Stadt zu danken habe, die schon zu Marc Aurels Zeiten den römischen, den universalen Geist verteidigt, daß ich frühzeitig gelernt, die Idee der Gemeinschaft als die höchste meines Herzens zu lieben.
Man lebte gut, man lebte leicht und unbesorgt in jenem alten Wien, und die Deutschen im Norden sahen etwas ärgerlich und verächtlich auf uns Nachbarn an der Donau herab, die, statt ›tüchtig‹ zu sein und straffe Ordnung zu halten, sich genießerisch leben ließen, gut aßen, sich an Festen und Theatern freuten und dazu vortreffliche Musik machten. Statt der deutschen ›Tüchtigkeit‹, die schließlich allen andern Völkern die Existenz verbittert und verstört hat, statt dieses gierigen Allen-andern-vorankommen-Wollens und Vorwärtsjagens liebte man in Wien gemütlich zu plaudern, pflegte ein behagliches Zusammensein und ließ in einer gutmütigen und vielleicht laxen Konzilianz jedem ohne Mißgunst seinen Teil. ›Leben und leben lassen‹ war der berühmte Wiener Grundsatz, ein Grundsatz, der mir noch heute humaner erscheint als alle kategorischen Imperative, und er setzte sich unwiderstehlich in allen Kreisen durch. Arm und reich, Tschechen und Deutsche, Juden und Christen wohnten trotz gelegentlicher Hänseleien friedlich beisammen, und selbst die politischen und sozialen Bewegungen entbehrten jener grauenhaften Gehässigkeit, die erst als giftiger Rückstand vom Ersten Weltkrieg in den Blutkreislauf der Zeit eingedrungen ist. Man bekämpfte sich im alten Österreich chevaleresk, man beschimpfte sich zwar in den Zeitungen, im Parlament, aber dann saßen nach ihren ciceronianischen Tiraden dieselben Abgeordneten freundschaftlich beisammen beim Bier oder Kaffee und duzten einander; selbst als Lueger als Führer der antisemitischen Partei Bürgermeister der Stadt wurde, änderte sich im privaten Verkehr nicht das mindeste, und ich persönlich muß bekennen, weder in der Schule, noch auf der Universität, noch in der Literatur jemals die geringste Hemmung oder Mißachtung als Jude erfahren zu haben. Der Haß von Land zu Land, von Volk zu Volk, von Tisch zu Tisch sprang einen noch nicht täglich aus der Zeitung an, er sonderte nicht Menschen von Menschen und Nationen von Nationen; noch war jenes Herden- und Massengefühl nicht so
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