1754 - Blutige Tränen
Jeder Schritt fiel ihr schwer. Wenn sie ging, dann sah es so aus, als würde sie jedes Mal Anlauf nehmen, um sich überhaupt fortbewegen zu können.
Andere Menschen zeigten sich kaum im Freien. In dieser Gegend, in der die Häuser meist auf großen Grundstücken standen, herrschte nie viel Betrieb auf den Straßen und Gehsteigen, auch nicht im Sommer.
So war die Frau fast allein, die von den Schatten der Dämmerung erfasst wurde. Ab und zu tauchten kleine Wolken vor ihren Lippen auf, wenn sie die Luft ausstieß.
Sie schaute zu Boden und sie stoppte hin und wieder, um Atem zu holen.
Dann hob sie den Kopf und schaute sich um. Zumeist wischte sie noch über ihre Stirn, zuckte einige Male mit den Schultern und blickte wieder nach vorn, als gäbe es dort ein Ziel, das sie unbedingt anvisieren musste.
Auf der anderen Straßenseite erklangen die Echos von Schritten. Ein Mann, der einen Hund an der Leine führte, hatte sein Haus verlassen und bewegte sich mit kräftigen Schritten voran. Der Hund zerrte an der Leine. Der Mann gönnte der Frau auf der anderen Seite der Straße kaum einen Blick.
Sie ging weiter.
Nein, sie schleppte sich. Es kostete sie Kraft, immer wieder einen Schritt vor den anderen zu setzen. Wer in ihrer Nähe gewesen wäre, der hätte mal ein Zischen oder auch so etwas wie einen leise gesprochenen Fluch hören können.
So langsam sich die Frau auch bewegte, sie hatte ein Ziel. Das war ihrem Verhalten anzusehen. Immer wieder mal stoppte sie und hob den Blick, um in eine bestimmte Richtung zu schauen. Es sah aus, als würde sie etwas suchen, dem all ihre Kraft galt.
Sie nickte. Es war für sie eine Bestätigung, auf dem richtigen Weg zu sein, und so gab sie sich noch mal einen Ruck und setzte ihren schweren Gang fort.
Sie musste weiter. Sie musste es schaffen. Lange genug hatte sie geforscht und sich umgehört. Nun wusste sie Bescheid.
Schritt für Schritt kam sie ihrem Ziel näher. Sie musste sich gegen manche Windbö stemmen, doch sie dachte nicht daran, aufzugeben. Sie kämpfte sich weiter voran.
Einige Male wurde sie auch von einem Auto überholt. Oder es kam ihr ein Wagen entgegen. Kein Fahrer hielt an, um sich um sie zu kümmern.
Sie ging an den Häusern vorbei, die auf den großen Grundstücken standen und nicht immer zu sehen waren. Hin und wieder gab es nur einen Lichtschein.
Sie musste es schaffen. Sie wollte nicht zusammenbrechen. Nicht so kurz vor dem Ziel. Die Straße, in der ihr Ziel lag, hatte sie bereits erreicht. Jetzt musste sie nur zu dem Haus, das sie nicht kannte. Aber ihr war bekannt, wer dort lebte.
Eine Familie mit dem Namen Conolly...
***
An diesem Nachmittag hatte es Johnny Conolly nicht länger in der Bibliothek ausgehalten. Er hatte einfach zu viel gelesen, ihm rauchte der Kopf. Er hatte sich für das altmodische Lernen entschieden und war in einen der Lesesäle der Uni gegangen, in denen die Studenten hockten, lasen, umblätterten, sich Notizen machten und die menschlichen Geräusche so gut wie möglich unter Kontrolle hielten.
Johnny hatte sich mit Gerichtsakten alter Kriminalfälle befassen müssen. Nach fast drei Stunden hatte er sich entschlossen, es gut sein zu lassen. Er wollte sich auf seinen Roller hocken und nach Hause fahren. Dort konnte er sich auf sein Bett hauen und erst mal Musik hören, die ihm das, was er hatte lernen sollen, aus dem Schädel blies.
Er klappte die beiden dicken Folianten zusammen, stellte sie wieder an ihre Plätze und war froh, die Lesehalle mit der hohen Decke verlassen zu können.
Auf dem Weg nach draußen kam ihm in den Sinn, dass es nicht mehr lange bis zum Weihnachtsfest war. Er dachte daran, dass er noch Geschenke kaufen musste, wusste aber nicht, was er seinen Eltern unter den Baum legen sollte. Bei seinem Vater war das kein so großes Problem. Er konnte sich gut ein Buch vorstellen. Und bei seiner Mutter Sheila irgendeinen Duft, den sie mochte, wobei er sich da auch blöd vorkam. Wie jemand, der sich keine Gedanken gemacht hatte.
Egal. Irgendwas würde ihm schon einfallen. Das war bisher immer so gewesen.
Sein Roller stand auf einem geschützten Parkplatz. Nur den Helm hatte Johnny mit in die Uni genommen. Er setzte ihn jetzt auf und zog auch den Reißverschluss seiner Lederjacke zu. Es war schon kälter geworden. Hinzu kam der Wind, der in sein Gesicht fuhr und regelrecht in die Haut biss.
Er hatte keine genaue Zeit angegeben, wann er wieder zu Hause sein wollte. Aber seine Mutter kannte ihn. Johnny würde zum
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