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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Bevölkerung des Dorfes in bunten ländlichen Trachten, denn nur ein einziger Personenzug am Tage ging damals hinüber in das verbotene und verschlossene Land, und es war das große Ereignis, die blanken Wagen eines Expreßzuges zu sehen, der die Welt des Ostens mit der Welt des Westens verband. Endlich war die Grenzstation erreicht, Njegorolje. Breit über die Gleise war ein blutrotes Band gespannt mit einer Aufschrift, deren cyrillische Lettern ich nicht lesen konnte. Man übersetzte sie mir: ›Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!‹ Man hatte, indem man unter diesem brennend roten Band hindurchschritt, das Imperium des Proletariats, die Sowjetrepublik, betreten, eine neue Welt. Der Zug freilich, in dem wir fuhren, war keineswegs proletarisch. Er erwies sich als Schlafwagenzug aus der zaristischen Zeit, behaglicher und bequemer als die europäischen Luxuszüge, weil breiter im Format und langsamer im Tempo. Zum erstenmal fuhr ich durch das russische Land, und sonderbar, es wirkte auf mich nicht fremd. Alles war mir merkwürdig vertraut, die weite leere Steppe mit ihrer leisen Melancholie, die kleinen Hütten und Städtchen mit ihren Zwiebeltürmen, die langbärtigen Männer, halb Bauer, halb Prophet, die mit gutmütigem, breitem Lachen uns grüßten, die Frauen mit ihren bunten Kopftüchern und weißen Kitteln, die Kwas, Eier und Gurken verkauften. Wieso kannte ich das alles? Nur durch die Meisterschaft der russischen Literatur – durch Tolstoi, Dostojewskij, Aksakow, Gorkij –, die uns das Leben des ›Volkes‹ so realistisch großartig geschildert. Ich glaubte, obwohl ich die Sprache nicht kannte, die Menschen zu verstehen, wenn sie sprachen, diese rührend einfachen Männer, die da in ihren weiten Blusen breit und behäbig standen, und die jungen Arbeiter im Zuge, die Schach spielten oder lasen oder diskutierten, diese unruhige, unbändige Geistigkeit der Jugend, die durch den Appell an alle Kräfte noch eine besondere Auferstehung erfahren. War es die Liebe Tolstois und Dostojewskijs zu dem ›Volke‹, die in einem als Erinnerung wirkte – jedenfalls überkam mich schon im Zuge ein Gefühl der Sympathie für das Kindliche und Rührende, das Kluge und noch Unbelehrte dieser Menschen.
    Die vierzehn Tage, die ich in Sowjetrußland verbrachte, gingen hin in einer ständigen Hochspannung. Man sah, man hörte, man bewunderte, man war abgestoßen, man begeisterte, man ärgerte sich, immer war es ein Wechselstrom zwischen heiß und kalt. Moskau selbst war schon eine Zwiespältigkeit – da der herrliche Rote Platz mit seinen Mauern und Zwiebeltürmen, etwas wunderbar Tatarisches, Orientalisches, Byzantinisches und darum Urrussisches, und daneben wie eine fremde Horde von amerikanischen Riesen moderne, übermoderne Hochbauten. Nichts ging zusammen; in den Kirchen dämmerten noch rauchgeschwärzt die alten Ikonen und die juwelenschimmernden Altäre der Heiligen, und hundert Schritte weiter lag in ihrem gläsernen Sarg die Leiche Lenins, eben frisch aufgefärbt (ich weiß nicht, ob zu unseren Ehren) im schwarzen Anzug. Neben ein paar blinkenden Automobilen peitschten mit schmatzenden Koseworten bärtige, schmutzige Istvoshniks ihre mageren Pferdchen, die große Oper, in der wir sprachen, glühte großartig und zaristisch in pompösem Glanz vor dem proletarischen Publikum, und in den Vorstädten standen wie schmutzige verwahrloste Greise die alten morschen Häuser, die sich eines an das andere lehnen mußten, um nicht umzufallen. Alles war zu lange alt und träge und verrostet gewesen und wollte jetzt mit einem Ruck modern, ultramodern, supertechnisch werden. Durch diese Eile wirkte Moskau überfüllt, überbevölkert und wirr durcheinandergeschüttelt. Überall drängten sich die Leute, in den Geschäften, vor den Theatern, und überall mußten sie warten, alles war überorganisiert und funktionierte darum nicht recht; noch genoß die neue Bürokratie, die ›Ordnung‹ machen sollte, die Lust am Schreiben von Zetteln und Erlaubnissen und verzögerte alles. Der große Abend, der um 6 Uhr beginnen sollte, begann um ½10; als ich todmüde um 3 Uhr nachts die Oper verließ, sprachen die Redner noch unentwegt weiter; bei jedem Empfang, bei jeder Verabredung kam man als Europäer eine Stunde zu früh. Die Zeit zerfloß einem zwischen den Händen und war doch prall voll in jeder Sekunde durch Schauen und Beobachten und Diskutieren; irgendein Fieber war in all dem, und man spürte, daß sie einen unmerklich

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