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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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einer auf, kam auf einen zu, nannte den Titel eines Buches, das man geschrieben, deutete auf sein Herz, um zu sagen »ich liebe es sehr«, dann packte er einen bei der Hand und schüttelte sie, als wollte er einem alle Gelenke vor Liebe zerbrechen. Und noch rührender, jeder brachte ein Geschenk. Es war damals noch eine schlimme Zeit; sie besaßen nichts von Wert, aber jeder holte etwas heran, um einem eine Erinnerung zu geben, einen alten wertlosen Stich, ein Buch, das man nicht lesen konnte, eine bäuerliche Schnitzerei. Ich hatte es freilich leichter, denn ich konnte mit Kostbarkeiten erwidern, die Rußland seit Jahren nicht gesehen –, mit einer Gillette-Rasierklinge, einer Füllfeder, ein paar Bogen guten weißen Briefpapiers, ein Paar weichen ledernen Pantoffeln, so daß ich mit geringstem Gepäck nach Hause kam. Gerade das Stumme und doch Impulsive der Herzlichkeit war überwältigend, und es war eine bei uns unbekannte Breite und Wärme der Wirkung, die man hier sinnlich fühlte – denn bei uns erreichte man doch niemals das ›Volk‹ –, eine gefährliche Verführung wurde jedes Beisammensein mit diesen Menschen, der manche der ausländischen Schriftsteller auch tatsächlich bei ihren Besuchen in Rußland erlegen sind. Weil sie sich gefeiert sahen wie nie und von der wirklichen Masse geliebt, glaubten sie das Regime rühmen zu müssen, unter dem man sie so las und liebte; es liegt ja in der menschlichen Natur, Generosität mit Generosität, Überschwang mit Überschwang zu erwidern. Ich muß gestehen, daß ich selbst in manchen Augenblicken in Rußland nahe daran war, hymnisch zu werden und mich an der Begeisterung zu begeistern.
    Daß ich diesem zauberischen Rausch nicht anheimfiel, danke ich nicht so sehr eigener innerer Kraft als einem Unbekannten, dessen Namen ich nicht weiß und nie erfahren werde. Es war nach einer Festlichkeit bei Studenten. Sie hatten mich umringt, umarmt und mir die Hände geschüttelt. Mir war noch ganz warm von ihrem Enthusiasmus, ich sah voll Freude ihre belebten Gesichter. Vier, fünf begleiteten mich nach Hause, ein ganzer Trupp, wobei die mir zugeteilte Dolmetscherin, ebenfalls eine Studentin, mir alles übersetzte. Erst wie ich die Zimmertür im Hotel hinter mir geschlossen hatte, war ich wirklich allein, allein eigentlich zum erstenmal seit zwölf Tagen, denn immer war man begleitet, immer umhütet, von warmen Wellen getragen. Ich begann mich auszuziehen und legte meinen Rock ab. Dabei spürte ich etwas knistern. Ich griff in die Tasche. Es war ein Brief. Ein Brief in französischer Sprache, aber ein Brief, der mir nicht durch die Post zugekommen war, ein Brief, den irgend jemand bei einer dieser Umarmungen oder Umdrängungen mir geschickt in die Tasche geschoben haben mußte.
    Es war ein Brief ohne Unterschrift, ein sehr kluger, ein menschlicher Brief, nicht zwar der eines ›Weißen‹, aber doch voll Erbitterung gegen die immer steigende Einschränkung der Freiheit in den letzten Jahren. »Glauben Sie nicht alles«, schrieb mir dieser Unbekannte, »was man Ihnen sagt. Vergessen Sie nicht, bei allem, was man Ihnen zeigt, daß man Ihnen auch vieles nicht zeigt. Erinnern Sie sich, daß die Menschen, die mit Ihnen sprechen, meistens nicht das sagen, was sie Ihnen sagen wollen, sondern nur, was sie Ihnen sagen dürfen. Wir sind alle überwacht und Sie selbst nicht minder. Ihre Dolmetscherin meldet jedes Wort. Ihr Telephon ist abgehört, jeder Schritt kontrolliert.« Er gab mir eine Reihe von Beispielen und Einzelheiten, die zu überprüfen ich nicht imstande war. Aber ich verbrannte diesen Brief gemäß seiner Weisung – »Zerreißen Sie ihn nicht bloß, denn man würde die einzelnen Stücke aus Ihrem Papierkorb holen und zusammensetzen« – und begann zum erstenmal alles zu überdenken. War es nicht wirklich Tatsache, daß ich inmitten dieser ehrlichen Herzlichkeit, dieser wunderbaren Kameradschaftlichkeit eigentlich nicht ein einziges Mal Gelegenheit gehabt hatte, unbefangen mit jemandem unter vier Augen zu sprechen? Meine Unkenntnis der Sprache hatte mich verhindert, mit den Leuten aus dem Volke rechte Fühlung zu nehmen. Und dann: ein wie winziges Stück des unübersehbaren Reiches hatte ich in diesen vierzehn Tagen gesehen! Wenn ich ehrlich gegen mich und gegen andere sein wollte, mußte ich zugeben, daß mein Eindruck, so erregend, so beschwingend er in manchen Einzelheiten gewesen, doch keine objektive Gültigkeit haben konnte. So kam es, daß, während fast

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