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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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gefaßt hat, in jedem Augenblick zurückgestoßen werden kann. Aber ich stand erst am ersten Anfang. Immerhin war es ein anderes Kommen, als ich Ende Februar 1934 in Victoria Station ausstieg; anders sieht man eine Stadt, in der man entschlossen ist zu bleiben, als eine, die man nur als Gast betritt. Ich wußte nicht, für wie lange Zeit ich in London wohnen würde. Bloß eines war mir wichtig: wieder zu meiner eigenen Arbeit zu gelangen, meine innere, meine äußere Freiheit zu verteidigen. Ich nahm mir, weil aller Besitz schon wieder Bindung bedeutet, darum kein Haus, sondern mietete ein kleines Flat, gerade groß genug, um in zwei Wandschränken die wenigen Bücher zu bergen, die ich nicht zu entbehren gewillt war, und um einen Schreibtisch aufzustellen. Damit hatte ich eigentlich alles, was ein geistiger Arbeiter um sich braucht. Für Geselligkeit blieb freilich kein Raum. Aber ich wollte lieber in engstem Rahmen wohnen, um zwischendurch frei reisen zu können: schon war mein Leben unbewußt auf das Provisorische und nicht mehr auf Bleiben gestellt.
    Am ersten Abend – es dunkelte schon, und die Umrisse der Wände verschwammen in der Dämmerung – trat ich in die kleine Wohnung, die endlich bereit stand, und erschrak. Denn mir war in dieser Sekunde, als hätte ich jene andere kleine Wohnung betreten, die ich vor fast dreißig Jahren mir in Wien eingerichtet, ebenso klein die Zimmer, und der einzige gute Gruß dieselben Bücher an der Wand und die halluzinierten Augen von Blakes ›King John‹, der mich überallhin begleitete. Ich brauchte wahrhaftig einen Augenblick, um mich zu sammeln, denn Jahre und Jahre hatte ich mich nicht mehr an diese erste Wohnung erinnert. War dies ein Symbol, daß mein Leben – so lange in die Weite gespannt – nun rückschrumpfte ins Gewesene und ich selber mir zum Schatten wurde? Als ich vor dreißig Jahren jene Stube in Wien mir wählte, war es ein Anfang gewesen. Ich hatte noch nichts geschaffen oder nichts Wesentliches; meine Bücher, mein Name lebten noch nicht in meinem Land. Jetzt – in merkwürdiger Ähnlichkeit – waren meine Bücher aus ihrer Sprache wiederum entschwunden, was ich schrieb, blieb für Deutschland nun unbekannt. Die Freunde waren fern, der alte Kreis zerstört, das Haus mit seinen Sammlungen und Bildern und Büchern verloren; genauso wie damals war ich wieder von Fremde umgeben. Alles, was ich dazwischen versucht, getan, gelernt, genossen, schien weggeweht, ich stand mit mehr als fünfzig Jahren wieder an einem Anfang, war wieder Student, der vor seinem Schreibtisch saß und morgens in die Bibliothek trabte – nur nicht so gläubig, nicht so enthusiastisch mehr, einen Schimmer von Grau auf dem Haar und ein leises Dämmern von Verzagtheit über der ermüdeten Seele.

    Von jenen Jahren 1934 bis 1940 in England viel zu erzählen zögere ich, denn schon trete ich nahe heran an unsere Zeit, und wir alle haben sie beinahe gleichmäßig durchlebt, mit der gleichen, von Radio und Zeitung gehetzten Unruhe, den gleichen Hoffnungen und gleichen Sorgen. Wir alle denken heute mit wenig Stolz an ihre politische Verblendung, und mit Grauen, wohin sie uns geführt; wer erklären wollte, müßte anklagen, und wer von uns allen hätte dazu ein Recht! Und dann: mein Leben in England war eine einzige Zurückhaltung. So töricht ich mich wußte, eine derart überflüssige Hemmung nicht bezähmen zu können, lebte ich in all diesen Jahren des Halbexils und Exils von allem freimütig Geselligen ausgeschaltet durch den Wahn, ich dürfe in einem fremden Lande nicht mitsprechen, wenn man die Zeit diskutierte. Ich hatte in Österreich nichts ausrichten können gegen die Torheit der führenden Kreise, wie sollte ich es hier versuchen, hier, wo ich mich als Gast dieser guten Insel fühlte, der wohl wußte, daß, wenn er – mit unserem klaren, besser informierten Wissen – auf die Gefahr hinwiese, die von Hitler der Welt drohe, man dies als persönlich interessierte Meinung nehmen würde? Freilich, es wurde manchmal hart, die Lippen zu verpressen angesichts der offenkundigen Fehler. Es war schmerzvoll zu sehen, wie gerade die höchste Tugend der Engländer, ihre Loyalität, ihr ehrlicher Wille, ohne Gegenbeweis jedem andern zunächst Glauben zu schenken, von einer musterhaft inszenierten Propaganda mißbraucht wurde. Immer wurde von neuem vorgegaukelt, Hitler wolle doch nur die Deutschen der Randgebiete an sich ziehen, dann sei er zufrieden und werde als Dank dafür den

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