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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers

Titel: Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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ein entscheidender Sieg des zähen Friedenswillens eines an sich unbeträchtlichen und ledernen Staatsmannes, und alle Herzen schlugen ihm in dieser ersten Stunde dankbar entgegen. Im Radio vernahm man zuerst die Botschaft ›peace for our time‹, die für unsere geprüfte Generation verkündete, wir dürften noch einmal in Frieden leben, noch einmal sorglos sein, noch einmal mithelfen an dem Aufbau einer neuen, einer besseren Welt, und jeder lügt, der nachträglich zu leugnen versucht, wie berauscht wir waren von diesem magischen Wort. Denn wer konnte glauben, daß ein geschlagen Heimkehrender zum Triumphzug rüstete? Hätte die große Masse in London an jenem Morgen, da Chamberlain von München zurückkam, die genaue Stunde seines Eintreffens gewußt, Hunderttausende wären zu dem Flugfeld von Croydon hingestürmt, ihn zu begrüßen und dem Manne zuzujubeln, der, wie wir alle in dieser Stunde meinten, den Frieden Europas und die Ehre Englands gerettet. Dann kamen die Zeitungen. Sie zeigten im Bild, wie Chamberlain, dessen hartes Gesicht sonst eine fatale Ähnlichkeit mit dem Kopf eines gereizten Vogels hatte, stolz und lachend von der Tür des Flugzeuges aus jenes historische Blatt schwenkte, das ›peace for our time‹ verkündete und das er seinem Volke als die kostbarste Gabe heimgebracht. Abends zeigte man die Szene schon im Kino; die Menschen sprangen auf von ihren Sitzen und jubelten und schrien – beinahe daß sie einander umarmten im Gefühl der neuen Brüderlichkeit, die nun für die Welt beginnen sollte. Für jeden, der damals in London, in England war, ist dies ein unvergleichlicher, ein die Seele beschwingender Tag gewesen.
    Ich liebe es, an solchen historischen Tagen in den Straßen herumzustreifen, um die Atmosphäre stärker, sinnlicher zu fühlen, um im wahrsten Sinne die Luft der Zeit zu atmen. In den Gärten hatten die Arbeiter das Graben der Unterstände eingestellt, lachend und schwatzend standen die Leute um sie, denn durch ›peace for our time‹ waren doch Luftschutzkeller überflüssig geworden; zwei junge Burschen hörte ich im besten Cockney spotten, man werde hoffentlich aus diesen Unterständen unterirdische Bedürfnisanstalten machen, es gebe ja deren in London nicht genug. Jeder lachte gerne mit, alle Menschen schienen erfrischter, belebter, wie Pflanzen nach einem Gewitter. Sie gingen aufrechter als am Tage zuvor und mit leichteren Schultern, und in ihren sonst so kühlen englischen Augen schimmerte ein heiterer Glanz. Die Häuser schienen leuchtender, seit man sie nicht mehr bedroht wußte von Bomben, die Autobusse schmucker, die Sonne heller, das Leben von Tausenden und Tausenden gesteigert und verstärkt durch dieses eine berauschende Wort. Und ich spürte, wie es mich selber beschwingte. Ich ging unermüdlich und immer rascher und gelöster, auch mich trug die Welle der neuen Zuversicht kraftvoller und freudiger dahin. An der Ecke von Piccadilly kam plötzlich jemand hastig auf mich zu. Es war ein englischer Regierungsbeamter, den ich eigentlich nur flüchtig kannte, ein durchaus unemotioneller, sehr in sich verhaltener Mann. Unter gewöhnlichen Umständen hätten wir uns sonst nur höflich gegrüßt, und nie wäre es ihm eingefallen, mich anzusprechen. Aber jetzt kam er mit leuchtenden Augen auf mich zu. »Was sagen Sie zu Chamberlain«, sagte er, strahlend vor Freude. »Niemand hat ihm geglaubt, und er hat doch das Rechte getan. Er hat nicht nachgegeben und damit den Frieden gerettet.«
    So fühlten sie alle; so fühlte auch ich an jenem Tage. Und noch der nächste war einer des Glücks. Einmütig jubelten die Zeitungen, an der Börse sprangen die Kurse wild empor, von Deutschland kamen zum erstenmal seit Jahren wieder freundliche Stimmen, in Frankreich schlug man vor, Chamberlain ein Denkmal zu errichten. Aber ach, es war nur das letzte leuchtende Auflodern der Flamme, ehe sie endgültig verlischt. Schon in den nächsten Tagen sickerten die schlimmen Einzelheiten durch, wie restlos die Kapitulation vor Hitler gewesen, wie schmählich man die Tschechoslowakei preisgegeben, der man feierlich Hilfe und Unterstützung zugesichert, und in der nächsten Woche war es bereits offenkundig, daß selbst die Kapitulation Hitler noch nicht genug gewesen, daß er, noch ehe die Unterschrift auf dem Vertrage trocken war, ihn schon verletzt in allen Einzelheiten. Hemmungslos schrie es Goebbels nun öffentlich über alle Dächer, daß man England in München an die Wand gedrückt. Ein

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