Leidenschaft der Nacht - 4
Kapitel 1
England, 1899
Olivia Gavin war für die Leute in Clovelly so etwas wie ein Kuriosum.
Sie wohnte in einem weißgekalkten Cottage hoch auf den Klippen mit Blick über den Hafen. Allein. Natürlich hatte sie Bedienstete, aber jeder wusste, dass diese nicht dasselbe waren wie eine Familie oder Freunde. Für eine so anmutige Frau, deren Gesicht gänzlich unberührt von den bisweilen rauhen Meerwinden blieb, hatte sie eindeutig sehr wenig männliche Gesellschaft. Genau genommen empfing sie überhaupt kaum jemanden.
Offensichtlich verfügte sie über einige Mittel, denn sie ging keinerlei Arbeit nach, obgleich sie dann und wann Schmuck fertigte, der in Henrietta Jewels kleinem Geschäft verkauft wurde. Und sie zeigte sich stets großzügig bereit, ihren Geldbeutel zu öffnen, wurde für einen guten Zweck gesammelt oder Hilfe gebraucht. Viel Personal unterhielt sie indessen nicht, lediglich eine Haushälterin, eine Zofe und einen Mann für alles. Das kam den Leuten im Dorf viel zu bescheiden für jemanden vor, der zur Oberklasse gehörte, weshalb sie vermuteten, dass Mrs. Gavin eher die Witwe eines wohlhabenden Kaufmanns war.
Sie galt gemeinhin als beliebt, auch wenn sie sich selten zeigte. Es ging das Gerücht um, dass sie einen städtischen Lebensrhythmus pflegte, also den Großteil der Nacht aufblieb, an ihrem Tand und Flitterkram arbeitete und die Tage verschlief. Einige rümpften die Nase ob derart abwegiger Gewohnheiten, und manche misstrauten einer Frau, die ihr Gesicht vor dem hellen Tageslicht verbarg, was sie zusätzlich mit dem Hinweis untermauerten, dass Olivia Gavin nie sonntagmorgens in die Kirche kam.
Ließ einer von ihnen eine entsprechende Bemerkung in Hörweite von Vikar Hathaway fallen, parierte dieser sie allerdings gleich mit: »Mrs. Gavin ist keine Fremde in meinem Gotteshaus.« Nachdem diese Frage fürs Erste beantwortet war, verlegten sich die Spekulationen auf Mr. Gavin. Manch einer glaubte, es hätte ihn nie gegeben, andere dachten, seine reizende Frau hätte ihn vorzeitig ins Grab gebracht.
Wieder andere machten sie zur Heldin eines Schauerromans, die Opfer einer furchtbaren Ehe war, aus der sie bei Nacht und Nebel floh, um Zuflucht in Clovelly zu suchen. Diese Theorien lehnte die überwiegende Mehrzahl der Dorfbewohner ab und erklärte, Gerüchte wären das Fischernetz des Teufels - was sie an Land zögen, könnte nie gut enden.
Und natürlich gab es auch welche, die wünschten, dass ihnen die zurückhaltende Mrs. Gavin ein bisschen mehr Stoff für Gerüchte liefern würde.
Ungeachtet ihres Lebensrhythmus und ihrer übertrieben anmutenden Wertschätzung der Privatsphäre jedoch wusste niemand in Clovelly ein schlechtes Wort über Olivia Gavin zu sagen. Und bei den wenigen unregelmäßigen Gelegenheiten, bei denen ein junger Mann aus dem Dorf in jemandes Stall oder im Hinterzimmer der »Horse and Hare Tavern« aufwachte und mit bleicher Miene beteuerte, er hätte keine Ahnung, wie er dorthin gelangt war, wäre keiner auf die Idee gekommen, Mrs. Gavin könnte es wissen. Was auch gut so war.
Denn Olivia Gavin gab sich größte Mühe, vor den Leuten im Dorf geheim zu halten, dass sie ein Vampir war.
Dies war eine Lektion, die Reign sie gelehrt hatte und die sie ausnahmsweise sehr zu schätzen wusste: Enthülle niemals, was du bist, es sei denn, du musst.
Selbstverständlich hatte er versäumt, ihr zu verraten, wie schwierig dies hin und wieder sein konnte. Andererseits musste sie der Fairness halber auch zugeben, dass sie ihm kaum die Chance gegeben hatte, sie viel anderes zu lehren, und sie gewiss nicht zugehört hätte, wäre er dazu gekommen.
Gewöhnlich fiel es den Leuten auf, wenn eine Frau nur des Nachts aus dem Haus ging oder übernatürlich stark war, dachte Olivia, während sie einen Heuballen auf den Scheunenboden hinaufwarf, der in etwa genauso viel wog wie sie selbst. Für sie war es eine leichte Übung, und sie ersparte Charles, ihrem Mann für alles, die Arbeit, dem sie später erzählen würde, sie hätte ein paar Jungen im Dorf angeheuert, sie zu erledigen.
Zwar wusste Charles, was sie war, doch das hielt ihn nicht davon ab zu meinen, Damen sollten keine Heuballen werfen - ob sie nun Vampire waren oder nicht. »Es ist einfach nicht richtig«, behauptete er und sah ihr dann unglücklich zu, wie sie die Arbeit verrichtete, der er nachgehen würde, wäre er dreißig Jahre jünger, und von der er wünschte, er könnte sie bis heute noch ausführen.
Olivia wischte
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