Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
erschleichen mußten, was sie mit Recht als ihr Recht empfindet. Glücklich genießt sie ihr Lebensalter mit dem Elan, der Frische, der Leichtigkeit und der Unbekümmertheit, die diesem Alter gemäß ist. Aber das schönste Glück in diesem Glück erscheint mir, daß sie nicht lügen muß vor den andern, sondern ehrlich sein darf zu sich selbst, ehrlich zu ihrem natürlichen Fühlen und Begehren. Mag sein, daß durch die Unbekümmertheit, mit der die jungen Menschen von heute durch das Leben gehen, ihnen etwas von jener Ehrfurcht vor den geistigen Dingen fehlt, die unsere Jugend beseelte. Mag sein, daß durch die Selbstverständlichkeit des leichten Nehmens und Gebens manches in der Liebe ihnen verlorengegangen ist, was uns besonders kostbar und reizvoll schien, manche geheimnisvolle Hemmung von Scheu und Scham, manche Zartheit in der Zärtlichkeit. Vielleicht sogar, daß sie gar nicht ahnen, wie gerade der Schauer des Verbotenen und Versagten den Genuß geheimnisvoll steigert. Aber all dies scheint mir gering gegenüber der einen und erlösenden Wandlung, daß die Jugend von heute frei ist von Angst und Gedrücktheit und voll genießt, was uns in jenen Jahren versagt war: das Gefühl der Unbefangenheit und Selbstsicherheit.
Universitas vitae
Endlich war der lang ersehnte Augenblick gekommen, da wir mit dem letzten Jahr des alten Jahrhunderts auch die Tür des verhaßten Gymnasiums hinter uns zuschlagen konnten. Nach mühsam bestandener Schlußprüfung – denn was wußten wir von Mathematik, Physik und den scholastischen Materien? – beehrte uns, die wir zu diesem Anlaß schwarze feierliche Bratenröcke anziehen mußten, der Schuldirektor mit einer schwungvollen Rede. Wir seien nun erwachsen und sollten durch Fleiß und Tüchtigkeit unserem Vaterlande Ehre machen. Damit war eine achtjährige Kameradschaft zersprengt, wenige meiner Gefährten auf der Galeere habe ich seitdem wiedergesehen. Die meisten von uns inskribierten sich an der Universität, und neidvoll blickten uns diejenigen nach, die sich mit anderen Berufen und Beschäftigungen abfinden mußten.
Denn die Universität hatte in jenen verschollenen Zeiten in Österreich noch einen besonderen, romantischen Nimbus; Student zu sein gewährte gewisse Vorrechte, die den jungen Akademiker weit über alle Altersgenossen privilegierten; diese antiquarische Sonderbarkeit dürfte in außerdeutschen Ländern wenig bekannt und darum in ihrer Absurdität und Unzeitgemäßheit einer Erklärung bedürftig sein. Unsere Universitäten waren meist noch im Mittelalter gegründet worden, zu einer Zeit also, da Beschäftigung mit den gelehrten Wissenschaften als etwas Außerordentliches galt, und um junge Menschen zum Studium heranzulocken, verlieh man ihnen gewisse Standesvorrechte. Die mittelalterlichen Scholaren unterstanden nicht dem gewöhnlichen Gericht, durften in ihren Collegien nicht von den Bütteln gesucht oder belästigt werden, sie trugen besondere Tracht, hatten das Recht, sich ungestraft zu duellieren und waren als eine geschlossene Gilde mit eigenen Sitten oder Unsitten anerkannt. Im Lauf der Zeit und mit der zunehmenden Demokratisierung des öffentlichen Lebens, als alle andern mittelalterlichen Gilden und Zünfte sich auflösten, verlor sich in ganz Europa diese Vorrechtsstellung der Akademiker; nur in Deutschland und in dem deutschen Österreich, wo das Klassenbewußtsein immer über das demokratische die Oberhand behielt, hingen die Studenten zäh an diesen längst sinnlos gewordenen Vorrechten und bauten sie sogar zu einem eigenen studentischen Kodex aus. Der deutsche Student legte sich vor allem eine besondere Art studentischer ›Ehre‹ neben der bürgerlichen und allgemeinen zu. Wer ihn beleidigte, mußte ihm ›Satisfaktion‹ geben, das heißt, mit der Waffe im Duell entgegentreten, sofern er sich als ›satisfaktionsfähig‹ erwies. ›Satisfaktionsfähig‹ wiederum war nun nach dieser selbstgefälligen Bewertung nicht etwa ein Kaufmann oder ein Bankier, sondern nur ein akademisch Gebildeter und Graduierter oder ein Offizier – kein anderer unter den Millionen konnte der besonderen Art ›Ehre‹ teilhaftig werden, mit einem solchen bartlosen dummen Jungen die Klinge zu kreuzen. Anderseits mußte man, um als ›richtiger‹ Student zu gelten, seine Mannhaftigkeit ›bewiesen‹ haben, das heißt, möglichst viele Duelle bestanden haben und sogar die Wahrzeichen dieser Heldentaten als ›Schmisse‹ im Gesicht tragen; blanke Wangen und eine
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